Von Böcklin bis Kandinsky - Maltechnische und analytische Forschungen zu komplexen Bindemittelmischungen in der Münchner Temperamalerei um 1900
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Rahmen des Forschungsvorhabens konnte das Wissen über die Münchner Temperamalerei um 1900 (ca. 1860 – 1914) vertieft und wesentlich erweitert werden. Die Anwendung von Erkenntnissen aus der Kolloidchemie führte in der Folge zu einem Paradigmenwechsel, der im Grunde die gesamte Malerei aller Jahrhunderte betrifft. Die gegenwärtigen Vorstellungen von Bindemittelsystemen, Malfarben und Maltechnik basieren im Wesentlichen auf empirischen Erfahrungen. Die Betrachtung von Malfarben als kolloide Systeme eröffnet eine neue Denkrichtung, die das bisherige empirische Wissen basierend auf einem naturwissenschaftlichen Modell neu ordnet und neu verortet. Dieses Modell ist nicht kongruent mit den bisherigen Vorstellungen von Malerei. Aus den Diskrepanzen der Denksysteme lassen sich interessante Schlussfolgerungen ziehen und Missverständnisse teilweise aufklären, die die Kommunikation zwischen Künstlern, Restauratoren und Naturwissenschaftlern in den vergangenen 150 Jahren (und davor) erschwert haben. Die Weiterentwicklung des kolloiden Modells und die Korrelation der Begrifflichkeiten der beiden Denkrichtungen sind Prozesse, die noch nicht abgeschlossen sind. Der Kern des kolloiden Modells sind die Wechselwirkungen zwischen Biopolymeren (Proteinen und Polysacchariden) und der Einfluss von Grenzflächen zwischen wässrigen und nicht-wässrigen Phasen in gemischten Bindemitteln sowie zwischen Pigmenten und Bindemitteln. Die Anwendung von Erkenntnissen aus der Lebensmittelwissenschaft führte zu Schlussfolgerungen, die im Hinblick auf Maltechnik teilweise sehr überraschend, von Lebensmitteln aber längst bekannt sind. Für die Eigenschaften einer Malfarbe sind nicht so sehr die Mengenanteile der Bindemittel entscheidend, sondern deren räumliche Verteilung in der Farbe. Diese Verteilung wird durch Minderheitskomponenten (Emulgatoren) oder auch den Lösemittelgehalt ganz wesentlich beeinflusst. Ob beispielsweise aus einer Mischung von Leinöl und Ei eine wässrige Eitempera mit Öl oder eine nicht-wässrige Ölfarbe mit Ei entsteht, hängt nicht vom Verhältnis der Bindemittel, sondern von der Herstellung der Farbe ab. Analytisch ist heute oft nicht mehr a priori nachvollziehbar, um welches System es sich ursprünglich handelte, die Unterscheidung zwischen Tempera und Ölfarbe ist oft nur durch Hinzuziehen von Informationen aus schriftlichen Quellen, maltechnischen Untersuchungen oder praktischen Rekonstruktionen möglich. Hier werden neue analytische Ansätze benötigt. Trotz des erheblichen Mehraufwands in Folge der Entwicklung eines neuen Modells für Temperamalerei wurden die Untersuchungen im geplanten Umfang durchgeführt. Die reine Identifizierung der Komponenten komplexer Bindemittelmischungen gelang hervorragend. Bis zu neun unterschiedliche Bindemittel konnten in einer einzelnen Gemäldeprobe nachgewiesen werden. Meist kamen Mischungen mehrerer unterschiedlicher Stoffklassen zur Anwendung, z.B. mit Proteinen stabilisierte Emulsionen aus Gummen (Polysacchariden) mit Öl-Harz-Mischungen. Hier konnte ein neuer Maßstab gesetzt werden indem gezeigt wurde, dass für die Temperamalerei um 1900 eine vollständige und empfindliche Analytik zwingend notwendig ist: alle Stoffgruppen – d.h. Öle, Harze, Wachse, Proteine und Polysaccharide – müssen in einer Probe parallel und mit hoher Empfindlichkeit erfasst werden. Dies ist notwendig, weil eine wässrige Tempera größtenteils aus Öl bestehen und die – entscheidende – wässrige Komponente leicht übersehen werden kann. Anhand der technologischen Untersuchung von Gemälden von Arnold Böcklin, Franz von Lenbach, Franz von Stuck, Julius Exter, Paula Modersohn-Becker, Fritz Overbeck und Wassily Kandinsky, der Auswertung relevanter Quellen, Bindemittelanalysen und Rekonstruktion von Malfarben und Details ausgesuchter Gemälde konnte ein Bild der Temperamalerei um 1900 gezeichnet werden. Jeder dieser vier Schritte war notwendig, um die Zusammenhänge zwischen Materialität, Maltechnik, Bildwirkung und Bildidee des Künstlers zu eruieren. Es zeigte sich, dass die Künstler nicht die Verwendung exakt derselben Bindemittelsysteme verband, sondern vor allem die Suche nach individuellen Ausdrucksmitteln für die Inhalte ihrer Malerei. Zu diesen Ausdrucksmitteln gehörte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch die Maltechnik, durch die sich vielfältigste Farb- und Oberflächenwirkungen erzeugen ließen. Die Temperamalerei stellte daher eine wichtige Erweiterung an technischen Ausdrucksmöglichkeiten dar, da sie sich sehr individuell auf die Bedürfnisse des einzelnen Künstlers anpassen ließ. Die enorme Wandelbarkeit und Vielfalt der Temperamalerei um 1900, die bereits in den Quellen dokumentiert und auch auf den Gemälden beobachtbar ist, kann nun durch die Kolloidchemie auch naturwissenschaftlich klarer beschrieben werden.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Zur Temperamalerei von Arnold Böcklin – Die Grenzen der Bindemittelanalytik?, Metalla, Sonderheft 3, 2010, S. 142-144
Patrick Dietemann, Ursula Baumer, Irene Fiedler, Wibke Neugebauer
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Emulsionen aus Öl und Gummen in der Temperamalerei um 1900, Metalla, Sonderheft 5, 2012, S. 218-220
Patrick Dietemann, Ursula Baumer, Cedric Beil, Irene Fiedler und Wibke Neugebauer