Topographien der Autobiographie
Final Report Abstract
Das Projekt „Topographien der Autobiographie“ hat sich erstmals systematisch der räumlichen Dimension der autobiographischen Selbstkonstruktion gewidmet. Die bisherige, vor allem hermeneutisch orientierte Autobiographieforschung hatte in erster Linie das zeitliche Darstellungsmoment im Blick. Sowohl die Entwicklung der Autobiographie in der Moderne, die den linear-chronologisch geordneten Charakter der Autobiographie zugunsten einer eher fragmentarischen Darstellungsweise aufbricht als auch die neuere Theorieentwicklung (Strukturalismus, Poststrukturalismus) legen es nahe, die Autobiographie auch unter einer räumlichen Perspektive in den Blick zu nehmen. Dieser neue Forschungsansatz wurde im Projekt theoretisch und praktisch, d.h. in genauer Textarbeit, begründet. Zentrales Analyseparadigma waren die autobiographischen Schriften Goethes (Dichtung und Wahrheit, Italienische Reise, Campagne in Frankreich 1792/Belagerung von Mainz), die in der deutschsprachigen Autobiographieforschung generell als bevorzugtes Genreparadigma der Autobiographie herangezogen werden. Von daher stellt die räumliche Analyse von Goethes autobiographischen Schriften in der germanistischen Autobiographieforschung einen markanten Meilenstein für einen Perspektivenwechsel von der Zeit zum Raum dar. Es ist zu erwarten, dass nun auch andere autobiographische Werke verstärkt unter einer räumlichen Perspektive analysiert werden. Erste Ansätze wurden von Mitgliedern des Projektteams mit Pilotstudien zu Walter Benjamin und W.G. Sebald vorgelegt. Es stellte sich allerdings heraus, dass auch eine räumliche Analyse der Autobiographie nicht ohne den Faktor der Zeit auskommt. Dies lässt sich damit erklären, dass im westlichen epistemischen Denken Raum und Zeit (vgl. Kant) unmittelbar aufeinander bezogen sind, die eine Kategorie ohne die andere nicht auskommt. Eine Privilegierung der Raumperspektive hat demzufolge stets eine verräumlichte Wahrnehmung der Zeit im Blick. Das Projekt „Topographien der Autobiographie“ hat, namentlich im Blick auf Goethes Autobiographie, gezeigt, dass die Raumperspektive durch ihre spezifische Rahmensetzung bislang unbeachtet gebliebene Modi der autobiographischen Selbstmodellierung sichtbar werden lässt.
Publications
- „Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft“, BIOS 23/2 (2010), 188-200
Wagner-Egelhaaf, Martina
- Das topographische Ich. Zur räumlichen Dimension der Autobiographie in Goethes Dichtung und Wahrheit, Diss. Münster 2012
Berghaus, Stephan
- „Goethes Einquartierungen. Zur autobiographischen Dimensionalität besetzter Räume“, erscheint in: „Ein Haus wie ich“. Zur gebauten Autobiographie in der Moderne, hg. v. Elisabeth Oy-Marra und Stefano Pisani, Mainzer Historische Kulturwissenschaften (MHK), Bielefeld 2012
Wagner-Egelhaaf, Martina
- „Grenzgänge des Ich – Wanderungen zwischen Autobiographie und Autofiktion in W.G. Sebalds Die Ringe des Saturn“, erscheint in: Auto(r)fiktion. Strategien literarischer Selbstkonstruktion, hg. v. Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2012
Berghaus, Stephan
- „Ortsbegehung – Räumliche Selbstbegründungsstrategien in W.G. Sebalds Die Ringe des Saturn“, in: Akten des 12. IVG-Kongresses 2010, Warschau: Vielheit und Einheit der Germanistik weltweit, Bd. 8, Sektion 60: Autofiktion. Neue Verfahren literarischer Selbstdarstellung, betreut v. Martina Wagner-Egelhaaf, Anna Czajka-Cunico und Richard Gray, Bern u.a. 2012
Berghaus, Stephan
- „‘Wir Cimmerier‘. Goethe in Italien“, in: Räumliche Darstellung kultureller Konfrontationen, hg. v. Carla Dauven-van Knippenberg und Anna Seidl, Amsterdam 2012
Wagner-Egelhaaf, Martina