Familienwerte im gesellschaftlichen Wandel: Die US-amerikanische Familie im 20. Jahrhundert
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die Forschungen der Emmy Noether-Gruppe fragten am Beispiel der konfliktreichen Verhandlung von Familienwerten nach der Wechselbeziehung zwischen sozialem und normativem Wandel. Bedingte der rasante soziale Wandel in den USA eine ebenso gravierende normative Neuausrichtung oder vice versa? Den Untersuchungsrahmen bildete das gesamte 20. Jahrhundert (1890-1990), Untersuchungsgegenstände waren öffentliche Debatten und Expertendiskurse, Sozial- und Amerikanisierungsprogramme, Politik und Rechtsprechung, mediale Darstellungen von Familien und ihren Werten. Als Untersuchungsachsen dienten die Differenzkategorien „Race“, „Class“, „Gender“ und Religion sowie die Frage nach der Gültigkeit des sozialwissenschaftlichen Wertewandelsparadigmas. Die vier Einzelstudien erwiesen übereinstimmend die hohe Konstanz des Ideals der weißen Mittelschicht („modern isolated nuclear family“, Talcott Parsons) als Norm und diskursivem Referenzrahmen. Das Konzept der Kernfamilie wirkte auf die Mitglieder der US-Gesellschaft als eine Werte- und Machtkonstellation, an der sie ihr Verhalten ausrichten mussten. Dies galt besonders für die ethnischen Minderheiten, die mit dem Kernfamilienideal als Vehikel der Amerikanisierung (Mexican American Families) konfrontiert bzw. bis in die 1960er Jahre rassistisch davon ausgeschlossen wurden (African American Families). Aber auch die Darstellung von Vaterschaft in populären Family Sitcoms der 1980er Jahre blieb diesem Ideal verpflichtet, obgleich afroamerikanische Familien, homosexuelle Ersatzväter und nicht-blutsverwandte Wahlväter in das Konzept der Kernfamilie integriert wurden. Besonders ertragreich ist die Frage nach Prozessen des Wertewandels und seinen Akteuren. Hier zeigen alle Studien übereinstimmend, dass sich am Beispiel der Familie kein linearer Wertewandel feststellen lässt, wie ihn Ronald Inglehart für den Übergang von der modernen zur postmodernen Gesellschaft Mitte der 1965er Jahre ausgemacht hatte. Dagegen sind mehrere Wellen der Pluralisierung von Familienwerten zu beobachten, die jeweils mit entsprechenden Gegenbewegungen konfrontiert wurden. Neben den 1920er und den 1960er/1970er Jahren erwiesen sich interessanterweise auch die 1940/50er Jahre (Frauenarbeit, Familienplanung, Minderheiten) als von liberalen Neuaushandlungen geprägt. Gleiches gilt für die 1980er Jahre, in denen die Reagan-Regierung zwar offensiv vermeintlich „traditionelle“ Familienwerte propagierte, Sozialausgaben kürzte und afroamerikanische „Welfare Queens“ verunglimpfte. Zugleich versuchten im selben Zeitraum Vertreterinnen des „Black Women’s Health Movement“ ein neues Bild von „Black Motherhood“ zu skizzieren (verantwortungsbewusst und leistungsfähig statt inkompetent und amoralisch) und im TV wurden Vaterkonzepte neu verhandelt. Zentrale Akteure in diesem konfliktreichen Aushandlungsprozess waren neben Journalisten und Politikern primär Sozialexperten, Mitglieder sozialer Bewegungen sowie Mütter, Väter und Paare als Klienten von Expertenrat. Auf dem Feld der Familie erweist sich die „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ durch Experteninterventionen bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, was dafür spricht, das Konzept über Lutz Raphael hinausgehend bis zur Jahrhundertwende 1900 auszuweiten. Weitere Studien zur Verhandlung von Familienwerten zwischen sozialem und normativem Wandel in den USA sollten unbedingt auch empirische Untersuchungen zu religiösen Familienwerten einbeziehen, das haben unsere Forschungen unterstrichen. Auch nehmen individuelle Reproduktionsentscheidungen und ihrer sozialen Rahmung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts in Debatten über Familie und Nation eine besonders zentrale Bedeutung ein (Pille, legale Abtreibung, künstliche Befruchtung) – hieran forschen wir bereits. „Publikumswirksame“ Berichte über unser Projekt erschienen in der Zeitung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Wissen.Leben, vom 6.10.2010, im DFG-Jahresbericht 2009 und in den DFG-Zeitschiften Forschung (2/2016) und German Research (1/2017).
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- „Concepts of Motherhood“. Öffentliche Debatten, Expertendiskurse und die Veränderung von Familienwerten in den USA (1890–1970), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Heft 2011/8,1, S. 60-87
Heinemann, Isabel
- Inventing the Modern American Family: Family Values and Social Change in 20th Century United States. Frankfurt a. M. 2012
Heinemann, Isabel (Hg.)
- American Family Values and Social Change: Gab es den Wertewandel in den USA? In: Dietz, Bernhard / Neumaier, Christopher / Rödder, Andreas (Hg.): Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren. Berlin / Boston 2013, S. 269-284
Heinemann, Isabel
- Familie in den USA. Zwischen Hegemonie der Kernfamilie und Wandel der Familienwerte. In: Hill, Paul B. / Kopp, Johannes (Hg.): Handbuch der Familiensoziologie. Wiesbaden 2014. S. 91-123
Heinemann, Isabel
- Macho Men and Modern Women: Mexican Immigration, Social Experts and Changing Family Values in the 20th Century United States, Berlin / Boston 2015 (Family Values and Social Change, 1)
Roesch, Claudia
- Preserving Family and Nation: Eugenic Masculinity Concepts, Expert Intervention, and the Hegemonic American Family in the United States, 1900-1960, in Dominquez-Andersen, Pablo / Wendt, Simon (Hg.): Masculinities and the Nation in the Modern World, 1800-1945, New York 2015, S. 71-92
Heinemann, Isabel
- Dad on TV: Sitcoms, Vaterschaft und das Ideal der Kernfamilie in den USA, 1981-1992, Berlin / Boston 2018 (Family Values and Social Change, 2)
Dechert, Andre
- Wert der Familie. Debatten über Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts (Band 3 der Reihe Family Values and Social Change), De Gruyter, 2018. 550 S.
Heinemann, Isabel
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110463699) - At the Heart of It All?: Discourses on the Reproductive Rights of African American Women in the 20th Century (Band 4 der Reihe Family Values and Social Change), De Gruyter, 2019. 246 S.
Overbeck, Anne
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110399431)