Mit dem Projekt wurde ein repertoire- und rezeptionsgeschichtlicher Beitrag zur Erforschung der symphonischen Gattungen im Zeitalter des Nationalismus aus einer spezifisch städtischen Perspektive geleistet. Den Ausgangspunkt bildete die gängige, aus dem heutigen Werkkanon abgeleitete Annahme, dass es im späten 19. Jahrhundert wieder zu einer Internationalisierung der symphonischen Orchestermusik kam, nachdem diese zuvor, seit der Kanonisierung des Modells der Wiener Klassik, primär von Werken deutschsprachiger Komponisten bestimmt worden war. Diese Hypothese am Beispiel Leipzigs zu überprüfen, bot sich besonders an wegen der Vorbildfunktion dieser „Musikstadt“ bei der Entwicklung des bürgerlichen Symphoniekonzerts und seines Werkkanons, wegen ihrer kontinuierlichen und gut dokumentierten Konzerttradition sowie der internationalen Ausrichtung ihrer Institutionen (Konservatorium, Musikverlage, Gewandhaus). Die Internationalisierungsthese wurde sowohl quantitativ als auch qualitativ überprüft: 1. durch eine statistische Auswertung des Leipziger Konzert- und Verlagsrepertoires und seines Kontextes (u.a. der erhaltenen Korrespondenz der Institutionen); 2. durch eine inhaltliche Analyse der Besprechungen von Leipziger Erstdrucken und Aufführungen symphonischer Werke ‚ausländischer‘ Komponisten in der örtlichen Fach- und Tagespresse. Es konnte gezeigt werden, dass der internationale Anteil am Symphonik-Repertoire im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts tatsächlich zunahm. Allerdings fiel das Wachstum bei den Aufführungen geringer und weniger geradlinig als erwartet aus. Auch handelte es sich bei den präferierten Werken z.T. um andere als die des heutigen Kanons (zunächst mehr Skandinavier). Höher als in den Konzerten lag der internationale Anteil beim Verlagsrepertoire. Dies erklärt sich daraus, dass die Leipziger Verlage zunehmend für den Weltmarkt produzierten. Im Gegenzug sank ihr Einfluss auf die Konzertprogramme am Gewandhaus. Bei stetigem Wachstum und gleichzeitiger Differenzierung sowie Professionalisierung des Leipziger Musikbetriebs kam es somit zu einer partiellen Entflechtung seiner verschiedenen Teilsysteme. Der Internationalisierungsprozess wurde in der Presse durchaus wahrgenommen, ohne jedoch im Zentrum des Diskurses zu stehen. Er vollzog sich eher im Hintergrund infolge der internationalen Bedeutung der Musikstadt Leipzig, die viele ausländische Musiker anzog. Die Beurteilung dieses Prozesses wie auch der einzelnen Werke hing vor allem von der ästhetischen Position der Periodika und der einzelnen Kritiker ab. Gab es anfangs mehr Sympathie für ‚nationale‘ Tendenzen in der sog. Fortschrittspartei, während die Konservativen diesen Aspekt ignorierten, so kehrte sich das Verhältnis später um: ‚Nationale‘, folkloristische Elemente galten den einen als heilsames Gegenmittel zur Moderne, den anderen hingegen als regressives, ‚primitives‘ Moment. Obwohl der ‚nationale‘ Faktor in der Leipziger Musikpresse wachsende Beachtung fand, blieben politische Aspekte generell im Hintergrund gegenüber ästhetischen Kriterien. Das Haupthindernis für eine unvoreingenommene Rezeption neuer internationaler Orchesterwerke bildete die Befangenheit in den klassizistischen Wertkategorien der Leipziger Tradition. So wurden vor allem solche Werke (u.a. von Gade, Rubinstein, Tschaikowsky) willkommen geheißen, die diese Tradition zu bestätigen schienen.