Empirische Untersuchung der Umweltwahrnehmung und der damit verbundenen Glaubensvorstellungen in Zentralasien und Sibirien am Beispiel der Tyva Südsibiriens
Final Report Abstract
Vorzustellendes Projekt hatte das Ziel, neue Erkenntnisse den gegenwärtigen Diskussionen über Umweltwahrnehmung am Beispiel der West-Tyva in Südsibirien beizusteuem. Bei der Verortung des durch die DFG geforderten Projektes in den gegenwärtigen Debatten zur „Umweltwahmehmung" bzw. zu „Weltbildem" oder zu „Weltinterpretationen" hat sich die Bearbeiterin vor allem auf theoretische Entwürfe, wie die Akteurs-Netzwerk-Theorie (zusammengefasst in Belliger, A. und D.J. Krieger 2006), Ingold's Organismenpersonen (2000, 2002) und Spittler's Interaktive Arbeit (1998, 2003) konzentriert, die im Kontrast zu tendenziell eher positivistischen und behavioristischen Ansätzen (zusammengefasst von Fischoff 2005) stehen. Deimoch blieben die zuerst genannten theoretischen und methodischen Ansätze nicht die ausschließlichen Leitfaden des Projekts. In einen Zusammenhang mit den theoretischen Ansätzen über mannigfaltige Wirklichkeiten (James 1890, Schütz 1945, 1971a,b, Schütz und Luckmann 2003) und plurale Rollenspiele (Goffman [1959] 2006) gesetzt, hat sich aus dem 2004-2005 in West-Tyva gesammelten, empirischen Material eine Beschreibungsweise der Umweltwahrnehmung ergeben, die auf verschiedenen parallelen Weltinterpretationen beruht, die, als in sich stimmige Systeme von Inhalt und Struktur, sowohl gleichwertig als auch einander gegenseitig widersprechend, zum Wissens-, Verhaltens- und Handlungsrepertoire eines Menschen gehören können. Folgend dem Konzept der Transdifferenz (zusammengefasst in Allolio-Näcke el al. 2005) existieren die verschiedenen parallelen Welt interpretationen nichl nur in Konkurrenz und gegenseitiger Bekämpfung, sondem bilden in einer Person ein Netzwerk von Kontinuen, in dem sich ihr menschlicher Träger stetig nach Situation und Kontext neu positioniert, d.h. er lässt verschiedene Weltinterpretationen situational und kontextbezogen, einander ersetzend, ergänzend oder vermischend zum Einsatz kommen. Die beiden in der Studie vorgestellten Interpretationsmodelle der Welt wurden als Dominanzmodell und Interaktionsmodell bezeichnet und strukturell voneinander unterschieden. Der Begriff Dominanzmodell bezeichnet die „menschliche Dominierung der Umwelt ais einer Serie von eher passiven Objekten menschlichen Wirkens". Dem Dominanzmodell steht das Interaktionsmodell ergänzend gegenüber, das ausführlicher als „Interaktion in einer den Menschen ein- und umschließenden Welt, bestehend aus menschlichen und nichtmenschlichen Subjekten" erklärt werden kann. Den eher theoretischen Ausführungen zum tyvanischen Beispiel Pluraler Weltinterpretationen im ersten Hauptkapitel der vorzulegenden Monographie folgen zwei praktische Hauptkapitel. Ersteres beschäftigt sich mit den verschiedenen, in Tyva bekannten Möglichkeiten der Interaktionen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Subjekten und rückt die zum Interaktionsmodell gehörigen Prozesse, Regeln, Normen und Werte, bzw. das zu ihm gehörige Wissen ins Zentmm der Darstellung. Das darauffolgende Hauptkapitel beschäftigt sich damit, wie einzelne tyvanische Forschungspartner auf ihre ganz persönliche Weise mit der Existenz beider Interpretationsmodelle umgehen und thematisiert Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten, Gründe und Konsequenzen sowie verschiedene Strategien des Wechsels der Positionen im Kontinuum zwischen den Extremen der im Projekt behandelten Inlerpretationsmodelle der Welt. Indem das Projekt den Prinzipien Perspektivwechsel, Pluralität und Ergänzung folgt, versucht es inhaltlich und methodisch einen Beitrag zur Darstellung komplexer und in sich widersprüchlicher Wellinterpretationen zu leisten. Das Beispiel der Tyva im mssländischen Südsibirien betrifft darüber hinaus - wie Osteuropa, Zentralasien und Sibirien insgesamt - eine Forschungsregion, die sich für derartige Studien empfiehlt, da sie einerseits von der internationalen Wissenschaft erst nach der sowjetischen Perestrojka (ab 1985) erschlossen werden konnte und andererseits wertvolle ethnographische Abhandlungen und ethnologische Studien vor allem von Wissenschaftlern aus den genannten Gebieten über einen langen Zeitraum (ab Anfang des 18. Jahrhunderts) als Quellen sowie Vergleichs- und Orientiemngsmaterial fur gegenwärtige Forschung bereithält. Die gegenwärtig in diesen Regionen stattfindenden Veränderungsprozesse in allen Bereichen des menschlichen Lebens sind eine weitere Empfehlung für intensive sozial- und kulturwissenschaftliche sowie ethnologische Erforschung dieser Regionen.
Publications
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2004 Der Weiße Weg. Naturreligion und Divination bei den West-Tyva im Süden Sibiriens. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag. (Arbeiten aus dem Institut für Ethnologie der Universität Leipzig 3). 142 S. ill.
Anett C. Oelschlägel
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2004 Religion des Alltags. Zur Naturreligion der Tyva im Süden Sibiriens. In: Tribus - Jahrbuch des Linden-Museums Stuttgart, 53: 69-97, ill.
Anett C. Oelschlägel
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2005 Der Weißbärtige Alte. Mythos und Gegenwart im Alltag der Tyva Südsibiriens. In: Katja Geisenhainer und Katharina Lange (Hrsg.): Bewegliche Horizonte. Festschrift zum 60. Geburtstag von Bernhard Streck. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 507-527, ill.
Anett C. Oelschlägel
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2005 Deutung und Wahrheit. Zwei Divinationspraktiken bei den Tyva im Süden Sibiriens. In: Anett C. Oelschlägel, Ingo Nentwig und Jakob Taube (Hrsg.): "Roter Altai, gib Dein Echo!" Festschrift für Erika Taube zum 65. Geburtstag. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 377-400, ill.
Anett C. Oelschlägel
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2005 Tyva (Tuva) in Bildem. In: Anett C. Oelschlägel, Ingo Nentwig und Jakob Taube (Hrsg.): „Roter Altai, gib Dein Echo!'' Festschrift für Erika Taube zum 65. Geburtstag. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, ill.
Anett C. Oelschlägel
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Herdentiere als Grenzgänger - Wildnis, Wild und Herdentiere am Beispiel der nomadisierenden West-Tyva im Süden Sibiriens. Vortrag gehalten im Kolloquium „Kamel, Pferd und Rentier - Herdentiere und die Mobilität der Nomaden", SFB 586 - Differenz und Integration, Universitäten Halle-Wittenberg und Leipzig, 28. Oktober 2005
Anett C. Oelschlägel
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Wir glauben, aber nicht jedem. Der Diskurs über "echte" und „falsche" Schamanen unter den Tyva im Süden Sibiriens. Vortrag gehalten im Kolloquium des Instituts für Ethnologie der Universität Leipzig, Februar 2005
Anett C. Oelschlägel
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2006 Die Kraft der „Reinen Erde". Wie Nomaden in Südsibirien ihre Umwelt wahrnehmen. In: Journal Universität Leipzig. Heft 1 (Februar). S. 8-9, ill.
Anett C. Oelschlägel
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2006 TyBHHCKoe ... «xyeaauaK» - Bonpocbi K npHpojie. [Das tyvanische Orakel „chuvaanak" - Fragen an die Natur.] In: [russ. Titel] [Nationalmuseum „60 Recken"] (Hrsg.): [Das Museum im 21. Jahrhundert: Probleme und Perspektiven] Kbi3bui: Anyjak, S. 89-95. (Russisch)
Anett C. Oelschlägel
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Tyvan World Views and the Concept of Transdifference. Vortrag gehalten im Seminar des Sibirienzentmms am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung, Halle/Saale, 4. April 2007.
Anett C. Oelschlägel
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On the Plurality of World Interpretations: The Case of West Tyvans in South Siberia. Vortrag gehalten im Seminar des Sibirienzentrums am Max-Planck-lnstitut fur ethnologische Forschung, Halle/Saale, 22. Juli 2008
Anett C. Oelschlägel