Figurationen des Märtyrers im Nahostkonflikt
Final Report Abstract
Eines der interessantesten Ergebnisse dieses Projekts war die Einsicht, dass das historische Datum 1948, die israelische Staatsgründung, die auf der palästinensischen Seite als nationale Katastrophe {nakba] bezeichnet wird, ausgesprochen eng verknüpft ist mit dem Datum für eine historische Wende im Übergang zur modernen arabischen Dichtung: Diese Wende vollzog sich mit der Begründung der sogenannten Freien Versdichtung zunächst im Irak, doch ihre Auswirkungen hatten einen ebenso entscheidenden Einfluss auf die palästinensische Kulturszene. Die Besonderheit Palästinas war die Einschreibung säkularer nationaler Diskurse in dieses frühe Stadium der modernen Literatur, und dies geschah insbesondere durch die facettenreiche Entwicklung von Figurationen des Märtyrers - einer ja eigentlich religiösen Figur - , und zwar bereits in den 1930er Jahren. Unsere Untersuchungen haben die Ausgangsthese bestätigt, dass die Figur des heldenhaften Opfers bzw. Märtyrers im schwierigen Prozess des palästinensischen nation building eine zentrale Rolle spielt. Mit der zugrundegelegten Fragestellung interpretierten wir die poetischen Zeugnisse der 1930er und 4Üer Jahre zum einen vor dem Hintergrund islamischer Heilsvorstellungen und Dschihad-Varianten und zum anderen vor dem Hintergrund säkularer nationalistischer Heldenvorstellungen. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass diese Märtyrerdichtung zwar von religiösen (Vor-)Bildern beeinflusst war und dieser Einfluss im Untersuchungszeitraum auch bewusst beibehalten wurde, dass aber ihre besondere moderne Strahlkraft aber gerade aus Ihrer säkularen Transformation resultiert. In unseren Untersuchungen sollte nachvollzogen werden, wie islamische Konzepte wie Dschihad und Märtyrertum in säkularen Kategorien ästhetisch reformuliert wurden, die darauf zielten, einen säkularen Nationalstaat zu konstituieren. Die Analyse der Quellentexte ergab, dass die semantischen Strukturen der islamischen Konzepte erhalten blieben und zugleich erweitert wurden durch weltliche kulturelle Traditionen altarabischen Heldentums. Die Dichtung der 1930er und 1940er Jahre war also ein wichtiges Werkzeug, um den islamischen Inhalt des Dschihad- und Märtyrerkonzeptes zu dezimleren, um dadurch den Weg freizumachen für eine säkularere Mythologie der Nation, auf der die spätere Widerstandsdichtung der 1960er Jahre aufbauen und sie an internationale Widerstandsdiskurse anknüpfen konnte. An Figurationen des Märtyrers in der sich herausbildenden palästinensischen Nationalliteratur lässt sich also die Transformation religiöser Konzepte in nationalsäkulare gut ablesen. Es wird deutlich, dass die Literatur in diesem Fall bewußtseinsbildend wirken konnte und eine zentrale Rolle in der Herausbildung eines nationalen Diskurses spielte. Nur vor dem Hintergrund dieser frühen Transformationsprozesse lassen sich spätere Entwicklungen des Märtyrerbildes in der palästinensischen Öffentlichkeit erklären. Denn bis heute bleibt das Märtyrertum eine typische Kippfigur, deren Bedeutung und Wirkmacht genau in dem Phänomen ihrer Wandelbarkeit und ihren schnellen Wechseln zwischen religiöser und säkularer Sphäre begründet liegt.
Publications
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(Dez. 2007) Wafa Idris - eine Selbstmordattentäterin zwischen Nationalheldin und Heiliger, in: S. Weigel, Hg., Märtyrer-Portraits. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, Wilhelm Fink Verlag
F.Pannewick
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(Nov. 2007), Sinnloser oder sinnvoller Tod? Zur Heroisierung des Opfers in nahöstlichen Kulturen, in: Stephan Conermann (Hg.), Islamwissenschaft als Historische Anthropologie. Münster LIT Verlag, S. 291-314
F.Pannewick
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(Okt. 2008) Kreuz, Eros und Gewalt. Zur Choreographie des Opfers in der arabischen Kunst, in: A.Kraß/ T. Frank, Hg., Tinte und Blut. Politik, Erotik und Poetik des Martyriums, Frankfurt/M., Fischer Taschenbuch Verlag, S.195-218
F.Pannewick