Das Äußere im Inneren: Konsum von Importgütern, Identitäts- und Personbildung in der weiblich-häuslichen Sphäre in Sansibar
Final Report Abstract
Die Gesellschaftskonstruktion der kiswahili-sprechenden, muslimischen Gemeinschaften der ostafrikanischen Küste ist von ihrer langen, autonomen Verflechtungsgeschichte innerhalb der kommerziellen und religiösen Netzwerke des Indischen Ozeans geprägt. Ihre Erforschung eröffnet neue Perspektiven auf bisher unberücksichtigt gebliebene Formen von Konsum als Inbezugsetzung zur Welt und leistet einen wichtigen Beitrag zur Überwindung des westlichen Bias in der Konzeptualisierung grenzüberschreitender Austauschprozesse. Das Projekt untersuchte mittels eines praxeologischen und phänomenologischen Ansatzes den alltäglichen und außeralltäglichen Konsum in Zanzibar Town (Sansibar) und fragte nach der Bedeutung der Aneignung globaler Importgüter für die Person- und Gesellschaftsbildung. Es ließen sich eigenständige Muster der situativen und relationalen Konstituierung von Person und Raum als mehr oder weniger „öffentlich“ oder „privat“ feststellen, welche auf der Wechselwirkung zwischen den raumkonstituierenden Entitäten, d.h. zwischen Menschen und Gütern, basieren. Schöpferische Matrix dieser Wechselwirkungen bildet ein gesamtgesellschaftlicher Habitus des materiellen und immateriellen „Verhüllens“/„Abschirmens“ von Person und sozialen Räumen. Entgegen modernen ökonomistischen Modellen dient dabei Konsum nicht zur Repräsentation von Wohlstand oder Status, sondern als Mittel zur Herstellung von Schönheit und Reinheit. Das dadurch produzierte Schöne wirkt wiederum innerhalb reziproker, vornehmlich in der weiblichen Sphäre situierter ästhetischer Großtaten als paradoxe Form verschleierten Zeigens sozioökonomischer und moralischer Qualitäten. Es setzt einen Wertschöpfungsprozess in Gang, durch welchen der höchste soziale und existentielle Wert von heshima, Respekt/Ehre, entsteht. Im gleichen Zuge wird der Status der Akteure innerhalb einer ästhetisch begründeten Zivilisationshierarchie konstituiert. Das Schöne ist also nicht lediglich expressiv, sondern ist der Motor des Prozesses, durch welchen Selbst und Gesellschaft (re)produziert werden – einem Prozess, in dem die in islamisch geprägten Gesellschaften häufig irrtümlich als marginal deklarierte weibliche Sphäre eine zentrale Rolle spielt. „Konsum“ entpuppt sich als Form von kreativer ästhetischer Produktion und von Investition ins eigene Dasein als respektiertes Mitglied der Gemeinschaft der Zivilisierten. In diesem nicht einer Markt-, sondern einer Gabenökonomie entsprechenden Zusammenhang wirkt das in Sansibar multisensoriell konstituierte Schöne im Sinne Alfred Gells als „Technologie der Verzauberung“: eine Technologie, die wiederum Ergebnis einer verzauberten, den Zugang zum Göttlichen eröffnenden ars oder techne der ethischen Lebensführung erscheint. Aus epistemologischer Sicht wird ein Regime der Präsentation instauriert, wie es sich auch in der sakralen Historiographie des Islam wiederfindet. Auf dieser Grundlage lässt sich auch die für die Swahili-Küste spezifische, historisch begründete und wandelbare Kultur der Translokalität erschließen. Durch die Investition von außen kommender Güter in den respektbildenden reziproken Austausch erfolgt eine ästhetische Inkorporierung der translokalen Beziehungslandschaft der Akteure und zugleich eine Extension des Selbst in die Welt. Weit entfernt vom simplen Begehren nach dem Westlich- Modernen durch Konsum treffen wir hier also auf einen ästhetischen Verflechtungsmodus. Durch die kreative, imaginative und reflexive Mimesis bzw. mimetische Aneignung des/der „Anderen“ konstituieren sich die Küstengemeinschaften sozial, konzeptuell, affektiv-sinnlich und materiell über das Lokale hinaus und (er)schaffen so eine eigene Welt: die plurale Welt (die „Welten“) der „Swahili“. Die ambige epistemologische und ontologische Verfasstheit dieser Welt, bedingt durch die Uneindeutigkeit und Opazität des verschleierten Zeigens, bildet wiederum den tieferen Grund für die eigentümliche Verquickung von sozialer Offenheit und Spannung, die für alle Küstengesellschaften charakteristisch ist. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass westlich geprägte, auf eindeutigen Klassifikationen beruhende Modelle wie die in der Forschung gängigen Konzepte von multiplen Modernen, Kosmopolitismus oder Hybridität es nicht vermögen, plurale historische Trajektorien und nicht-dichotomische Identitätsformationen wie jene, die sich in der historisch eigenständigen Konstitution der Küstengesellschaften offenbaren, zu erfassen. Die unverzichtbare Rolle der Ethnologie für eine radikale Infragestellung der westlich-modernen Erfahrung und eine Pluralisierung gesellschaftlicher Paradigmen im Kontext der interdisziplinären Erforschung von Globalisierungs- und Verflechtungsprozessen wird dadurch deutlich.
Publications
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2010: Verschleierung als Praxis: Gedanken zur Beziehung zwischen Person, Gesellschaft und materieller Welt in Sansibar. In: Elisabeth Tietmeyer, Claudia Hirschberger, Karoline Noack, Jane Redlin (Hrsg.), Die Sprache der Dinge – kulturwissenschaftliche Perspektiven auf die materielle Kultur. Münster: Waxmann, 135-148
Ivanov, Paola
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2012: Constructing Translocal Socioscapes: Consumerism, Aesthetics, and Visuality in Zanzibar Town. Journal of Eastern African Studies 6, 4: 631-654
Ivanov, Paola
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2013: Translokalität, Konsum und Ästhetik im islamischen Sansibar: Eine praxistheoretische Untersuchung. Habilitationsschrift, Universität Bayreuth
Ivanov, Paola
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(2014): Cosmopolitism or Exclusion? Negotiating Identity in the Expressive Culture of Contemporary Zanzibar. In: Abdul Sheriff und Engseng Ho (Hrsg.), The Indian Ocean: Oceanic Connections & the Creation of New Societies. London: Hurst & Company, 209-238
Ivanov, Paola