Thomas und Johannes-Johannes und Thomas. Eine detaillierte Neubewertung des Verhältnisses der beiden Evangelien (und ihrer Trägergruppen?)
Final Report Abstract
Die antike Jesusüberlieferung beschränkt sich nicht auf den Kanon des Neuen Testaments. Auch so genannte apokryphe Evangelien enthalten Erzählungen über Jesus und Aussprüche, die Jesus zugeschrieben werden. Der wohl bekannteste dieser Texte ist das Thomasevangelium, das durch seine koptische Übersetzung im Schriftenfund von Nag Hammadi vollständig erhalten ist. Es handelt sich um eine Sammlung von 114 Aussprüchen Jesu (nach konventioneller Zählung). Viele dieser Sprüche (Logien) ähneln der Spruchüberlieferung, die man im Matthäus- und Lukasevangelium antrifft, und so fand das Thomasevangelium schon bald Beachtung als mögliche Parallele zu der gemeinsamen Quelle (Q), die meistens angenommen wird, um die Übereinstimmungen zwischen Matthäus und Lukas zu erklären. Zahlreiche Sprüche des Thomasevangeliums weisen aber auch eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Passagen aus dem Johannesevangelium bzw. den johanneischen Schriften (Johannesevangelium und Johannesbriefe) auf. Diese Ähnlichkeiten lassen sich aber nicht mit einer globalen Theorie erklären, sondern sie sind für jedes der in Frage kommenden Logien einzeln auszuwerten. Diese Auswertung der Parallelen zwischen Thomas- und Johannesevangelium wird in diesem Projekt erstmals systematisch vorgenommen. Es zeigt sich, dass nur wenige Logien (EvThom 11,3; 13,8; 24,1; 37,1; 43; 52; 69,1; 77,1; 91,1) das Johannesevangelium voraussetzen. Umgekehrt wird EvThom 8 in Joh 21,11 aufgenommen. Andere Logien rezipieren die gleichen Überlieferungen (EvThom 1; 11,2; 38,2) oder sind von den gleichen oder ähnlichen Traditionen beeinflusst (EvThom Prol.; 4; 11,3; 13,5; 27,2; 37,3; 61,3; 108; 111,2; 114,1). Hier zeigt sich, dass manche Logien (EvThom 11; 13; 37) sich auf mehreren Ebenen mit dem Johannesevangelium berühren. Das bedeutet: Nicht nur das Thomasevangelium als Ganzes ist eine heterogene Sammlung, deren einzelne Elemente in jeweils unterschiedlichen Beziehungen zum Johannesevangelium stehen, sondern auch einzelne Logien zeigen Spuren eines längeren Entstehungsprozesses, der wohl mit der Entstehung des Johannesevangeliums parallel verlief. Der Anfangsverdacht hat sich damit mehr als bestätigt. Das Milieu, aus dem die beiden Evangelien stammen, scheint von einer Weisheitschristologie geprägt gewesen zu sein: In vielen gemeinsamen Logien spricht Jesus so, wie im Alten Testament die personifizierte Weisheit spricht. Der große Unterschied zwischen den beiden Evangelien liegt aber darin, wie dieses Denken rezipiert wurde: Der Verfasser des Johannesevangeliums verband es mit der Erzählung von Leben, Wirken, Sterben und Auferstehung des Menschen Jesus von Nazareth, den er damit als den Gesandten und „Ausleger“ Gottes verstehen konnte. Im Thomasevangelium blieben die Sprüche hingegen isoliert und erhielten innerhalb dieser Sammlung, die sukzessive als kohärenter Text aufgefasst wurde, einen individualistischen Bezugsrahmen. Dennoch erweisen sich zahlreiche Logien des Thomasevangeliums als enge Verwandte des Johannesevangeliums. Zugleich zeigt sich, dass sowohl das Thomasevangelium als auch das Johannesevangelium in einem Strom der Jesusüberlieferung stehen, der auch nach der Abfassung der Evangelien weiterlief und sich in den Werken von Kirchenvätern des 2.-5. Jahrhunderts niederschlägt, die ihrerseits Worte Jesu (so genannte Agrapha) überliefern. Auch diese Beobachtung zeigt: Das Thomasevangelium mag heute als apokrypher Text gelten, doch bei seiner Entstehung war es in frühchristlichen Kontexten bestens vernetzt.
Publications
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„Going Hungry for a Purpose. On Gos. Thom. 69.2 and a Neglected Parallel in Origen.“ in: JSNT 32.4 (2010), 379-393
Stephan Witetschek
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„Die Stunde des Lammes? Christologie und Chronologie in Joh 19,14.“ in: EThL 87 (2011), 127- 187
Stephan Witetschek
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„Quellen lebendigen Wassers. Zur Frage nach einem ‚johanneischen‘ Motiv in EvThom 13.“ in: ZNW 103 (2012), 254-271
Stephan Witetschek