Eine Erkundung des 'friedlichen' postkolonialen Staates
Final Report Abstract
Das Forschungsprojekt setzte bei der Beobachtung eines außergewöhnlichen Wandels von Krieg zu Frieden an: Die mittlerweile über 20 Millionen Bewohner der Insel Madagaskar im westlichen Indischen Ozean haben in neuerer Zeit die normative Vorstellung einer 'nationalen Solidarität' (fihavanana malagasy) zum Dreh- und Angelpunkt ihres Zusammenlebens gemacht. Nachdem hier über Jahrhunderte hinweg Kriege ein ganz selbstverständliches Instrument der politischen Auseinandersetzung darstellten, ist im Laufe des 20. Jahrhunderts eine dezidiert friedliche Gesellschaft entstanden, deren Erfolg sich auch in der Praxis zeigt. In den mehr als fünf Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit (1960) haben die vielen tiefen gesellschaftlichen Krisen erfreulicherweise nie jene ,normative Hürde' genommen, die das Abgleiten in einen Zirkel von Gewalt und Gegengewalt bedeutet hätte. Die dreijährige Untersuchung zielte auf die Erklärung des bisher unbeachtet gebliebenen Phänomen eines 'friedlichen postkolonialen Staates' am Beispiel Madagaskars ab. Im Rahmen von vier Feldaufenthalten wurde der Distrikt Besalampy an der Westküste untersucht, insgesamt knapp 70 Interviews mit politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren durchgeführt, politische Strukturen und zugehörige normative und kognitive Vorstellungen ermittelt sowie lokale Ereignisse und Entwicklungen einschließlich historischer Zusammenhänge im Kontext der Aufgabenstellung dokumentiert. Die Analysen einer 'hysterischen Epidemie' als Ausdruck einer tiefen sozialen Krise sowie einer neuartigen Form der Volksjustiz (dina) boten in dieser Form ungeplante, aber aufschlussreiche Möglichkeiten zur Konkretisierung der Forschungsideen. Die besonders intensive Ausarbeitung von normativen Vorstellungen der 'Solidarität' (fihavanana), u.a. auch im Rahmen eines internationalen und interdisziplinären Workshops, erwies sich als Schüssel für die Klärung der grundlegenden Fragestellungen. Das zentrale Forschungsergebnis ist die Erklärung der friedlichen Gesellschaft auf Madagaskar: Sie ist nur der letzte Schritt eines langen historischen Prozesses der Erweiterung tief verwurzelter Vorstellungen von (familiärer, ethnischer, regionaler) Solidarität auf immer größere gesellschaftliche Zusammenhänge, bis neuerdings hin auf die Ebene einer Nation bzw. gesamt-madagassischen Gesellschaft. Hinzu kommt die grundlegende Dokumentation einer in der ethnographischen Forschung Madagaskars nahezu völlig unbekannten Region. Aufgrund der jetzt vorgelegten Erkenntnisfortschritte, so durch die nun empirisch belegte Konstitution einer friedlichen Gesellschaft ausgerechnet im Kontext von Kolonialisierung und Dekolonialisierung, durch das sich andeutende theoretische und ethnographische Potential sowie die aktuelle Situation eines politischen Neuanfangs bestehen erhebliche 'heuristische Chancen', die für eine Fortführung dieses Projektes in der Zukunft sprechen.
Publications
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2014 Fihavanana - La vision d'une société paisible à Madagascar. Perspectives anthropologiques, historiques et socio-économqiues. (Bd. 4 Schriften des Zentrums für Interdisziplinäre Regionalforschung). Universitätsverlag Halle-Wittenberg
Peter Kneitz
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2014 La paix du fihavanana. In P. Kneitz (dir.): Fihavanana - La vision d'une société paisible. Universitätsverlag Halle-Wittenberg, 15-72
Peter Kneitz
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2014 Une 'maladie malgache': Fihavanana et solution d'une crise sociale à Madagascar. In P. Kneitz (dir.): Fihavanana - La vision d'une société paisible. Universitätsverlag Halle-Wittenberg, 157-198
Peter Kneitz