Gesellschaftliche Formierungsprozesse - archaisches Griechenland und isländische 'Freistaatzeit': Perspektiven eines diachronen Vergleichs
Zusammenfassung der Projektergebnisse
In den letzten Jahren ist es der Forschung zum mittelalterlichen Island in überzeugender Weise gelungen, ein konkretes und differenziertes Bild der gesellschaftlichen Formierungsprozesse von der Besiedlung Islands bis zur Ausbildung und Verfestigung politischer Institutionen und gesellschaftlicher Regelungsmechanismen zu zeichnen, das aus der Sicht des Althistorikers eine immens wertvolle Vergleichsfolie darstellt. Im Zentrum stehen dabei die Konkurrenz um soziale Kapitalien, wie etwa die Fähigkeit zur Streitschlichtung, und deren Kontrolle durch die Gemeinschaft, die sich als im Entstehen begriffene politische Öffentlichkeit interpretieren lässt: Die Vorrangstellung einzelner Akteure basiert wesentlich auf der Konkurrenz um soziale Kapitalien. Wer jedoch dauerhaft gegen das Gemeinwohl handelt, läuft Gefahr, nicht nur seine gesellschaftliche Vorrangstellung, sondern auch seine ökonomische Basis zu verlieren. Dieser Prozess beförderte und stabilisierte die soziale Stratifikation Islands entscheidend. In diesem Spannungsverhältnis sind auch die Entstehung von Ämtern und die Verschriftlichung gesellschaftlicher Regelungsmechanismen zu sehen: Die Institutionalisierung ist zunächst eng an die sozialen Kapitalien ihrer Träger gebunden und kanalisiert zugleich die daraus resultierende Konkurrenz. Diese analytische Perspektive führte zu einer partiellen Neubewertung der früharchaischen Schriftquellen und der in ihnen gespiegelten gesellschaftlichen Strukturen: In der Forschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass für die Früharchaik nicht von einer stabilen aristokratischen Oberschicht auszugehen ist. Mit diesem Projekt konnte darüber hinaus gezeigt werden, dass die unterschiedlichen Perspektiven der zeitgenössischen Schriftquellen nicht zwingend auf stabile divergierende Mentalitäten (Adelsethik vs. Bäuerliche Gemeinschaftssinn) zurückzuführen sind. Es wird vielmehr vorgeschlagen, die Schriftzeugnisse der Früharchaik, einschließlich der lyrischen Dichtung, nicht als Ausdruck grundsätzlich unterschiedlicher Lebenswelten oder der Marginalisierung einer ehemals stabilen Aristokratie zu lesen. Sie spiegeln in dieser Lesart vielmehr eine chronologisch kaum weiter differenzierbare historische Situation im späten 8./frühen 7. vorchristlichen Jahrhundert, in der sich vielfältige gesellschaftliche Formierungs- und Differenzierungsprozesse vollzogen haben: Während sich eine Oberschicht zu stabilisieren beginnt, lässt sich zugleich eine neue Form der Institutionalisierung erkennen, die den Handlungsrahmen von Einzelpersonen erheblich einschränkt. Die Vorrangstellung einzelner Akteure basiert wesentlich auf Gemeinwohlorientierung und unterliegt einer strengen Kontrolle durch die Gemeinschaft; dies zeigt sich nicht nur in den homerischen Epen. Dadurch entstehen politische Handlungsräume, die von Akteuren mit entsprechendem sozialen Kapital, wie etwa den Turannoi besetzt werden können; die Früharchaik zeigt hier eine vergleichsweise hohe soziale Mobilität. Die Schaffung von Ämtern soll, wie die schriftliche Fixierung gesellschaftlicher Regelungsmechanismen, die Konkurrenz um diese Einflusssphären kanalisieren. Dabei bleibt das Amt zunächst eng mit der Person des Amtsträgers verbunden und kann erst durch die Einführung von Verfahrensregeln, die auch Akteure mit hohem sozialen Kapital binden, an Eigenständigkeit gewinnen; ein Beispiel hierfür ist das sogenannte Verfassungsgesetz von Dreros. Dieser Deutungsrahmen ermöglicht es, die unterschiedlichen früharchaischen Schriftquellen in einer spezifischen historischen Situation zu verorten und noch enger zu verknüpfen, als dies bislang der Fall war. Das hier vorgeschlagene Analyseinstrumentarium stellt ein Experiment dar und kann nur erste Schlaglichter auf die komplexen historischen Prozesse im früharchaischen Griechenland werfen; hier ist besonders darauf zu achten, die Heterogenität der gesellschaftlichen Organisationsformen im archaischen Griechenland nicht in einem eindimensionalen Modell aufzulösen. Zumindest jedoch liefert es Erklärungsansätze, die ohne in der Forschung zwar noch immer etablierte, längst jedoch als problematisch erkannte Vorannahmen auskommen.