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Die Untersuchung gesellschaftlicher Vorstellungen von Identität, Rationalität und Sexualität anhand der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse in Deutschland (1900-1985).

Antragsteller Dr. Anthony Kauders
Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2010 bis 2014
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 170047425
 
Erstellungsjahr 2013

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Freuds Platz in der Geschichte haben Forscher bislang vor allem auf zwei Arten geortet. Entweder wollten sie wissen, wie er zu solchen Gedanken kommen konnte - und suchten nach den wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Einflüssen auf den Wiener Psychologen. Oder sie wollten wissen, welche Wirkung er auf berühmte Zeitgenossen hatte - und suchten nach seinem Einfluss in den Künsten, in der Literatur und in den Wissenschaften. Der Freud-Komplex zeichnet jedoch nicht nach, welche Intellektuelle den Wiener Psychoanalytiker beeinflussten und welche von ihm beeinflusst worden sind. Stattdessen wird die historische Auseinandersetzung mit Freud zum Anlass genommen, folgende Frage zu beantworten: Wie verhielten sich Deutsche zu einer Lehre, die Lust und Realität, Ohnmacht und Selbstbestimmung, Traum und Wirklichkeit zum Schwerpunkt ihrer Arbeit machte? Finden wir eine Antwort auf diese Frage, können wir auch Vermutungen darüber anstellen, wie Deutsche über Sexualität, das Unbewusste, die Autonomie, das Ich nachdachten. In sechs Längschnitten wird diesen Fragen nachgegangen. Im Jahr 1913 ist die Psychoanalyse für die meisten Psychiater eine Bedrohung, da sie den eigenen Denkstil in Frage stellt. Manche Jugendliche glauben dagegen, dass Freuds Werk mehr Aufrichtigkeit verspricht. Und prominente Künstler hoffen, mit Hilfe der Psychoanalyse die Grenzen der Subjektivität auszuloten. Verhandelt werden vor allem bürgerliche Werte, also wie sehr das eigene Ich „Herr im eigenen Hause - sei oder wie sehr die Sexualität die Kultur bestimmen dürfe. Im Jahr 1930 hat sich die Lage grundlegend geändert. Freud erhält den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt, allerdings nur unter heftigsten Protesten. Das Unbewusste nimmt nun immer breiteren Raum ein im Denken über Subjektivität. Psychologen suchen nach einer Psychologie mit mehr Seele, Künstler setzen das Unbewusste experimentell ein, Philosophen versprechen sich von einer Rückkehr zum Unbewussten mehr „Leben". Die Ablehnung der Psychoanalyse als zu „rationalistisch" nimmt immer mehr zu. Im Jahr 1938 vermischen sich die Vorstellung von einem „deutschen" Unbewussten mit dem Glauben an biologische Rassen. Die Psychoanalyse ist jetzt nicht nur zu rationalistisch, sie ist als jüdische Wissenschaft rationalistisch. Und die Juden werden in doppelter Hinsicht als „artfremd" wahrgenommen, nämlich als Träger eines kontaminierten Blutes und als Vertreter einer kalten Ratio. Als man im Jahr 1956 Freuds 100. Geburtstag feiert, sind noch immer viele Menschen davon überzeugt, dass ein spezifisch deutscher Zugang zur Psyche existiere. Ganzheitliches Denken, in der Weimarer Republik oft gegen bürgerliche Werte gerichtet, hat nichts von seiner Beliebtheit eingebüßt. Die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse ändert sich erst dann, als man die Wiederentdeckung der Psychoanalyse mit der Wiedereingliederung in die westliche Staatengemeinschaft gleichsetzt. Im Jahr 1967 entdecken die Mitglieder der Studentenbewegung Freuds internen Widersacher Wilhelm Reich, mit dem sie glauben, die frühkindliche Erziehung auf ganz neue Füße stellen zu können. In Kinderläden sollen psychoanalytische Ideen dabei helfen, antiautoritäre, sexuell befreite Menschen zu erschaffen. Dass diese Sehnsucht nicht von allen geteilt wurde, sieht man an den Reaktionen auf den Serienmörder Jürgen Bartsch. In seinem ersten Prozess weigern sich die Richter, psychoanalytische Gutachter zu hören. Den Widerspruch zwischen einer Minderheit, die die menschliche Subjektivität ganz neu erfinden möchte, und der großen Mehrheit, die davon nichts wissen will, wird hier überdeutlich. Im Jahr 1985 gehört die Psychoanalyse zu einem von vielen Angeboten, mit der man die eigene Psyche verstehen will. Mehr Subjektivität, mehr Authentizität und mehr Selbstentfaltung sucht man mit Freud, aber genauso gut ohne ihn. Das gibt den Psychoanalytikern die Möglichkeit, über ihre eigene Geschichte in Deutaschland zu reflektieren. Der Freud-Komplex zeichnet nach, wie im Lauf des Jahrhunderts bürgerliche und romantische Traditionen das deutsche Denken über die Psyche beherrschten. Die Ergebnisse der Studie sind im Berlin Verlag unter dem Titel "Der Freud-Komplex. Eine Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland" erschienen.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • The West German Student Movement, Psychoanalysis, and the Search for a New Emotional Order, 1967-1971, in: Central European History 44 (2011), S. 711-731
    Anthony D. Kauders
  • „Psychoanalysis is Good, Synthesis is Better". The German Reception of Psychoanalysis, 1930 and 1956, in: Journal of the History of the Behavioral Sciences 47 (2011), S. 380-397
    Anthony D. Kauders
  • Wie viel Politik verträgt die Psychoanalyse? Eine bundesrepublikanische Debatte, 1968-1990, in: Uffa Jensen, Maik Tändler (Hrsg.), Das Selbst zwischen Anpassung und Befreiung. Psychowissen und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen: Wallstein 2012, S. 189-211
    Anthony D. Kauders
  • Bürgerlichkeit und Antisemitismus. Kontinuitäten und Zäsuren in der Rezeption der Psychoanalyse, 1926-1960, in: Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus 29 (2013), S. 53-72
    Anthony D. Kauders
  • Truth, Truthfulness, and Psychoanalysis: The Reception of Freud in Wilhelmine Germany, in: German History 31 (2013), S. 1-22
    Anthony D. Kauders
  • Der Freud-Komplex. Eine Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland, Berlin: Berlin Verlag. ISBN: 978-3-8270-1198-5
    Anthony D. Kauders
 
 

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