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Identitätsbildung im Spiegel der Jesuserinnerung - Das Markusevangleium als kollektives Gedächtnis

Fachliche Zuordnung Katholische Theologie
Förderung Förderung von 2010 bis 2015
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 175298658
 
Erstellungsjahr 2014

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Ausgangspunkt des Projekts war die Frage, wie sich Theorien zum sozialen Erinnern für das Verständnis und die Auslegung biblischer Texte fruchtbar machen lassen. Als Untersuchungsgegenstand diente das Markusevangelium als ältester narrativer Text des Neuen Testaments. Dazu wurden zunächst Erkenntnisse aus der exegetischen und kulturwissenschaftlichgedächtnistheoretischen Forschung aufbereitet und anhand eines Modells, das biblische Texte als Erinnerungstexte versteht, expliziert. Die Theoriebausteine für dieses Modell stammen aus den Bereichen der kulturwissenschaftlichen und geschichtstheoretischen Forschung, sowie der Kognitionspsychologie, Psychoanalyse und Narratologie. Das Ergebnis ist eine Matrix, die soziales Erinnern idealtypisch in die Kategorien soziales, kollektives und kulturelles Gedächtnis einteilt und somit ein Instrumentarium bereitstellt, um Erinnerungsprozesse interdisziplinär anschlussfähig zu beschreiben und theoretisch fundierte Kriterien zum Verständnis und zur Externalisierung von Gedächtnisprozessen bereitzustellen. Das Markusevangelium wird in diesem Modell als Externalisierung der Erinnerung einer Gedächtnisgemeinschaft und mithin als kollektives Gedächtnis verstanden. Es erscheint als konsistente, logisch aufeinander aufbauende (Gründungs-) Erzählung, die aus vielen einzelnen Bausteinen besteht. Diese Bausteine waren ursprünglich eigenständige Episoden, die im Zuge der Formation der Gründungserzählung (neu) angeordnet und literarisch überformt wurden. Dadurch wurden die einzelnen Episoden miteinander und mit der narrativen Makrostruktur so verbunden, dass der grundsätzliche episodische Charakter zwar noch zu erkennen ist, die einzelnen Episoden aber nicht mehr rekonstruiert werden können. Die Auswahl und Anordnung der einzelnen Gedächtnisgeschichten sowie ihre Bearbeitung folgte dabei den Bedürfnissen der Gruppe, die Trägerin dieses Gedächtnisses ist. Als Entwurf einer Identität, die sich aus einem konstituierenden Moment ergibt, die Gegenwart der Gruppe erklärt und auf Zukunft hin ausgerichtet ist, spiegelt die Gründungsgeschichte weniger die Ereignisse selbst, als die Bedeutung dieser Ereignisse im Verständnis der Gruppe. Dabei spielt auch die Verortung der Gruppe in ihrem sozialen Kontext eine Rolle, da dieser nicht nur Erzählsondern auch Deutungsmuster bereitstellt, die in den Gedächtnistext Eingang finden. Der Unterscheidung Halbwachs‘ folgend, der den Unterschied zwischen sozialem und kollektivem Gedächtnis u. a. darin sah, dass das soziale Gedächtnis den Prozess der Identitätsverfertigung innerhalb bereits existenter sozialer Rahmen beschreibe, während kollektives Gedächtnis den Prozess der Verfertigung neuer Rahmen für künftige Identitätsbildungsprozesse darstelle, gilt das Markusevangelium die fundierende Geschichte einer Gemeinschaft, die von dort her ihre Identität bestimmt. Dieser Zugang ermöglicht es, den Text als Quelle neu zu entdecken: Nicht als unmögliche Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit, sondern als Zeugnis einer Wirklichkeitskonstruktion, die eine Geschichte erzählt, die das politische, soziale, kulturelle und wirtschaftliche Umfeld in eine enge Beziehung zu den Widerfahrnissen setzt, die sie erinnert und so auch von ihrer eigenen Identität Auskunft gibt. Wenn das Markusevangelium von Jesus spricht, beschreibt es nicht einfach von außen das Leben und Sterben eines Mannes, der Jesus von Nazareth hieß. Es erzählt vielmehr von innen, wie das Wiederfahrnis der Begegnung mit Jesus und die Erfahrungen mit ihm diejenigen geprägt haben, die diese Geschichte erinnern. Als fundierende Geschichte ist das Markusevangelium ein Dokument kollektiver Sinnstiftung. Es bietet eine das einzelne Individuum überschreitende Welt- und Lebensdeutung. Wie alle Gründungserzählungen ist es ein identitätskonkreter Text, keine Historie. Verstanden als gedeutete Erinnerung und verdichtete Erfahrung, bei der die Wahrheit nicht objektiv, sondern eine soziale Übereinkunft ist, erzählt es nicht die Geschichte Jesu, sondern eine Geschichte des Erinnerten Jesus, dem die Markusleute und später Hinzukommende im Text immer wieder neu begegnen und eingeladen sind, den Weg mit- und nachzugehen, den er vorgezeichnet hat.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • Social and Cultural Memory in Biblical Exegesis. In: Carstens, Pernille: Hasselbalch, Trine; Lemche, Niels Peter (Hgg.): Cultural Memory in Biblical Exegesis (Perspectives on Hebrew Scriptures and its Contexts 17). Piscataway NJ 2012, 175-199
    Sandra Hübenthal
  • Der Trienter Kanon als kulturelles Gedächtnis. In: Hieke, Thomas (Hg.), Formen des Kanons. Studien zu Ausprägungen des biblischen Kanons von der Antike bis zum 19. Jahrhundert (SBS 228). Stuttgart 2013, 104-150
    Sandra Hübenthal, Christian Handschuh
  • Das Markusevangelium als kollektives Gedächtnis (FRLANT 253). Göttingen 2014
    Sandra Hübenthal
  • Weißt du noch, wie’s früher war? Geschichten formen Erinnerung – und umgekehrt. In: Welt und Umwelt der Bibel 2/2014, 32-33
    Sandra Hübenthal
  • Art. Social Memory, Communicative Memory, Collective Memory und Cultural Memory. Für: Thatcher, Tom; Keith, Chris; Person, Raymond; Stern, Elsie (Hgg.): Dictionary of the Bible in Ancient Media. London, Bloomsbury, T&T Clark, 2017. isbn 978 0 5672 2249 7
    Sandra Hübenthal
 
 

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