Lokale Marktordnung und kommunale Selbstverwaltung: (De-)Zentralisierung in Russlands "gelenkter Demokratie"
Final Report Abstract
Großinvestitionen in Agrarbetriebe und Agrarland in Russland während der letzten Jahre erscheinen zunächst vor allem hinsichtlich ihres Maßstabs bemerkenswert. Eindrucksvoll verweisen Statistiken über den Umfang der getätigten Transaktionen sowie die von Großunternehmen kontrollierten Ackerflächen, die jene der ehemaligen russisch-sowjetischen Großbetriebe mitunter um mehr als das Hundertfache übersteigen, auf eine massive Landakkumulation hin. Vor dem Hintergrund dieses groben Bildes wird auch im Rahmen der Land Grabbing-Debatte häufig auf Russland als geradezu prototypisches Beispiel für die diagnostizierten ,globalen' Prozesse verwiesen. Die im Projektrahmen durchgeführten ethnographischen Untersuchungen zeigen jedoch, dass dem zwei Fehlannahmen zu Grunde liegen: Erstens die vermeintlich generelle Zentralität der Landfrage und zweitens die Annahme einer unmittelbaren und absoluten Übermacht der ,neuen' Großunternehmen im Verhältnis zu dörflichen Akteuren. In den vier analysierten Fallstudien spielten zwar markante lokal-öffentliche Auseinandersetzungen, die sich teils an Landfragen entzündet hatten, eine bedeutende Rolle. Bei eingehenderer Analyse wurde jedoch deutlich, dass innerhalb dieser Aushandlungsprozesse den vielfältigen Unterstützungs- und Gewährleistungsfunktionen politisch-ökonomischer Arrangements ein deutlich größerer Stellenwert zugeschrieben wurde als etwa Landfragen. Die Relevanz von Landbesitz oder Landrechten lässt sich dabei nicht vorab bestimmen, sondern wird innerhalb der durch Investitionsprojekte katalysierten Neuaushandlung lokaler politisch-ökonomischer Ordnungen ko-konstituiert. Weder für die investierenden Unternehmen, noch für kommunale Akteure oder Bevölkerungsgruppen erscheint Ackerland an sich als zentralstes oder auch nur hinreichendes Gut bezüglich der Sicherung von Existenzbedingungen und profitablen Wirtschaftsweisen. Fundamentale wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Großbetrieben und lokaler Bevölkerung grenzen den möglichen Handlungsrahmen der beteiligten Akteure ab und werden gerade deshalb zugleich auch zu einem zentralen Aushandlungsund Interventionsgegenstand. Aus diesem Grund verblasst auch das Bild der vermeintlichen Allmacht großer Unternehmen bei näherer Betrachtung. Komplexe Kompromisse zwischen unterschiedlichen lokalen Instanzen bilden Realitäten, auf die sich auch die neuen Investoren einlassen müssen. Sie sind dadurch mit oft unerwarteten Grenzen der Gestaltbarkeit und profitorientierten Neuausrichtung bestehender Ordnungen konfrontiert, die sie teils als gegeben hinnehmen müssen, teils zu verändern versuchen. Die soziale Komplexität dieser Situationen und die ihnen inhärenten Risiken des „overflowing" und nicht intendierter Rückschläge machen die unmittelbare Implementierung ökonomischer Modelle oder vorab geplanter Umstrukturierungskonzepte oft unmöglich. Wir haben den Umgang mit tatsächlichen oder vermeintlichen Handlungsoptionen als ökonomisch orientiertes Experimentieren in Bereichen hoher sozialer Komplexität umschrieben. Daraus folgt allerdings nicht, dass ein solches Experimentieren weniger wirklichkeitsprägend wäre als eine Umsetzung klar bestimmbarer Programmatiken. Durch die ethnographische Fundierung der durchgeführten Studien konnten wir teils sehr deutliche, teils subtile aber potentiell richtungsweisende Verschiebungen innerhalb lokaler politischer Ökonomien feststellen, welche durch Interventionen ,neuer' Agrarinvestoren angestoßen wurden. Die Ergebnisse unseres Projektes leisten damit einen Beitrag zu Debatten um Land Grabbing und Agrarinvestitionen, um Transformationsprozesse im ländlichen Russland sowie - auf methodologisch-konzeptioneller Ebene - zur Erforschung von Ökonomisierungsprozessen und der empirisch-kontextsensiblen Fruchtbarmachung von Rechtfertigungsansätzen.
Publications
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