Verbreitungsgrad, Risikofaktoren und Folgen sexueller Aggression und Viktimisierung bei jungen Erwachsenen: Eine Längsschnittstudie
Final Report Abstract
Obwohl die internationale Forschung belegt, dass sexuelle Aggression unter jungen Erwachsenen weit verbreitet ist, hat das Thema in Deutschland bislang wenig Aufmerksamkeit erfahren. Der Begriff „sexuelle Aggression“ umfasst sexuelle Handlungen, die gegen den Willen des Gegenübers ausgeführt werden und verschiedene Strategien der Druckausübung (Einsatz körperlicher Gewalt, Ausnutzen der Wehrlosigkeit, verbaler Druck), sexuelle Handlungen (sexuelle Berührungen, versuchter oder vollendeter Geschlechtsverkehr) sowie Beziehungskonstellationen (PartnerInnen, Bekannte, Fremde) umfassen. Das vorliegende Projekt untersuchte an einer Ausgangsstichprobe von 2.425 Studierenden über drei Messzeitpunkte im Abstand von 12 Monaten Verbreitungsgrad und Verlaufsmuster sexueller Aggression aus der Opfer- und aus der Täterperspektive, wobei auch Opfererfahrungen von Männern und Täterhandeln von Frauen erfasst wurde. Über die Prävalenzerfassung hinaus wurden theoretisch fundierte Prädiktoren sexueller Opfererfahrungen sowie Täterhandlungen im Rahmen prospektiver Längsschnittanalysen untersucht. Zudem wurde ein Instrument zur Erfassung sexueller Aggression entwickelt, das in 12 weiteren Ländern in Europa und Lateinamerika zum Einsatz kam. Die zu T1 erfasste Gesamtprävalenz sexueller Opfererfahrungen seit dem 14. Lebensjahr lag bei den weiblichen TeilnehmerInnen bei 28 Prozent, bei den männlichen bei 14 Prozent. Knapp 10 Prozent der Männer und 6 Prozent der Frauen berichteten für den gleichen Zeitraum mindestens eine sexuell aggressive Täterhandlung. Die Opferprävalenzen für die beiden darauffolgenden 12-Monatszeiträume betrugen bei den Frauen 26 Prozent (T2) und 25 Prozent (T3), bei den Männern 24 Prozent (T2) und 22 Prozent (T3). Für die gleichen Zeiträume berichteten 12 Prozent der Männer und 6 Prozent der Frauen (T2) bzw. 9 Prozent der Männer und 5 Prozent der Frauen (T3) mindestens eine sexuell aggressive Täterhandlung. Diese Zahlen bestätigen die Befunde aus der internationalen Forschung, dass unfreiwillige sexuelle Kontakte unter Studierenden eine erhebliche Prävalenz aufweisen und unterstreichen die Notwendigkeit, sowohl Opfererfahrungen von Männern als auch Täterhandeln von Frauen zu erfassen. Durch die Erhebung von Opfer- und Täterangaben bei beiden Geschlechtern wurde gezeigt, dass die konsistent auftretende Diskrepanz zwischen Opfer- und Täterprävalenzen nicht durch geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung sexueller Intentionen zu erklären ist, da sie bei beiden Geschlechtern auftrat. Über die Beschreibung des Verbreitungsgrades hinaus stand im Zentrum des Projekts die längsschnittliche Analyse von Vulnerabilitätsfaktoren sexueller Opfererfahrung sowie Risikofaktoren sexuell aggressiven Täterhandelns. Hierbei wurden erstmals geschlechtsspezifische Verlaufsmuster sexueller Missbrauchserfahrungen im Hinblick auf spätere Reviktimisierung bzw. Täterhandlungen aufgezeigt. Die Erfahrung sexuellen Missbrauchs in der Kindheit führte bei weiblichen wie männlichen Opfern zu einem verringerten sexuellen Selbstwertgefühl, das sich bei Frauen als prospektiver Prädiktor erneuter Opfererfahrungen, bei Männern dagegen als Prädiktor späteren Täterhandelns erwies. Dagegen ergaben sich für die Wechselwirkungen von sexuellen Opfererfahrungen, sexuellem Selbstwertgefühl und Depressivität parallele Verkaufsmuster für beide Geschlechter: sexuelle Opfererfahrungen führten im Längsschnitt zu erhöhter Depressivität und verringertem sexuellen Selbstwertgefühl, erhöhte Depressivität und geringes Selbstwertgefühl waren aber auch Prädiktoren sexueller Viktimisierung über die Zeit. Weitere Analysen zeigten, dass kognitive Verhaltensdrehbücher („Skripts“) für freiwillige sexuelle Interaktionen spätere Opfererfahrungen vorhersagten, insofern sie Risikofaktoren für sexuelle Aggression enthielten (z.B. Alkoholkonsum in sexuellen Interaktionen). Erwartungsgemäß wurde dieser Zusammenhang über die Umsetzung der Skripts in riskantes sexuelles Verhalten vermittelt. Schließlich wirkten positive Erwartungen über die Wirkung von Alkohol auf sexuelles Erleben und Verhalten als Prädiktoren sexueller Opfererfahrungen. Insgesamt tragen die Befunde umfangreiche Erkenntnisse zum Verständnis des Verbreitungsgrades sowie der Risiko- und Vulnerabilitätsfaktoren sexueller Aggression im jungen Erwachsenenalter bei.
Publications
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