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Perspektivität im Balkanslavischen: semantische Grundlagen und diskurspragmatische Relevanz

Antragsteller Professor Dr. Ulrich Schweier, seit 4/2013
Fachliche Zuordnung Einzelsprachwissenschaften, Historische Linguistik
Förderung Förderung von 2010 bis 2018
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 189858383
 
Erstellungsjahr 2015

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Balkanslavische (Bulgarisch, Makedonisch, z.T. Serbisch) zeichnet sich innerhalb der slavischen Sprachen durch einige Besonderheiten v.a. im morphosyntaktischen, d.h. formalen und strukturellen Bereich aus, die aus dem Zusammenspiel von innerslavischen Entwicklungen mit arealen Einflüssen resultieren. Ein Beispiel dafür ist der sogenannte ‚Renarrativ‘ – verbale Formen, die aus dem sogenannten ‘l-Partizip’ und dem Hilfsverb ‚sein‘ bestehen. Sie sind dem für die slavischen Sprachen typischen Perfekt formal und funktional ähnlich und diachron aus diesem hervorgegangen. In traditionellen Darstellungen wird für sie eine besondere Bedeutung, die der ‘Nacherzählung’, angenommen und ein eigenständiges, vom Perfekt unterschiedenes Paradigma postuliert. Formale Grundlage für diese Annahme ist die Verwendung des Hilfsverbs der 3. Person (Perfekt) oder sein Fehlen (Renarrativ). Diese ‘l-Formen‘ standen im Zentrum des Projekts, das sich insbesondere für das Zustandekommen ihrer Interpretationen und ihre Funktion im Textzusammenhang interessierte, zwei Aspekte also, die in der bisherigen Literatur noch nicht intensiv behandelt waren. Die zentralen Ergebnisse des Projekts lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Ausarbeiten einer einheitlichen semantische Basis • Ableiten der Funktion der (Nicht-)Verwendung des Hilfsverbs auf der Textebene • Einordnung der balkanslavischen l-Formen in den gesamtslavischen Kontext Grundlage für das Beschreiben der Textfunktionen war das Zurückführen der vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten, die für diese Formen angenommen werden – neben ‚Nacherzählung‘ beispielsweise auch ‚Vermutung‘, ‚Hörensagen‘, ‚Überraschung‘, etc. – auf eine gemeinsame semantische Basis. Diese wurde als die Verankerung des dargestellten Ereignisses mit einem Beobachterstandpunkt beschrieben, der mit dem des Erzählers zusammenfallen, einer Figur im Text zugeschrieben werden oder auch unbestimmt bleiben kann. Eine zentrale Rolle dabei spielt das Hilfsverb in der 3. Person, dessen Verwendung die Verankerung mit dem Erzähler nahelegt, während seine Nicht-Verwendung eine Unterscheidung von Erzähler- und Beobachterstandpunkt anzeigt. Diese Verankerungsmöglichkeiten gehen einher mit dem Einführen von Perspektiven auf das dargestellte Ereignis, d.h. dessen expliziter Verankerung mit einer Textinstanz (wie z.B. Erzähler, Figur, Sprecher). Auf der Textebene können so unterschiedliche Strukturierungen eingeführt werden, wie die Unterscheidung von Erzähler- und Figurentext oder die Gliederung der Information in Vordergrund und Hintergrund. Ein solcher dynamischer Analyseansatz erklärt die Verwendung dieser Formen besser, als die traditionelle Annahme unterschiedlicher Paradigmen für l-Formen mit und ohne Hilfsverb. Zudem erlaubt er – und dies ist das zweite wichtige Ergebnis der Projektarbeit –, die Verhältnisse im Balkanslavischen in den Zusammenhang der allgemein-slavischen Entwicklung in Bezug auf die l-Formen einzuordnen. Gezeigt wurde dies durch einen Blick auf die diachrone Entwicklung im Slavischen sowie insbesondere durch die Untersuchung der Verhältnisse in der serbischen Umgangssprache, die hier erstmals vertieft durchgeführt wurde. Aus den Resultaten der Projektarbeit ergeben sich für die weitere Forschung Anknüpfungspunkte u.a. in folgenden Bereichen: (Euro-)Typologische Perspektive; funktionaler Sprachwandel und ‚Genre‘; Anknüpfungsmöglichkeiten zur Literaturwissenschaft. Untersuchungen zur Entwicklung der l-Formen in innerslavischer und (euro-)typologischer Perspektive versprechen weitere Aufschlüsse über Grammatikalisierungs- und Funktionalisierungspfade von Perfekten. Über ihre perspektivierende Funktion sind – und werden – die untersuchten Formen für bestimmte Genres charakteristisch. Entsprechend sollte der Faktor ‘Genre’ in künftigen Untersuchungen zum funktionalen Sprachwandel berücksichtigt werden. Die Verbindung von sprachlichen Strukturen und narrativen Effekten erlaubt den Brückenschlag zur Literaturwissenschaft, insbesondere zur Narratologie.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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