Bedingungen für die Inanspruchnahme von Whistleblowing-Systemen am Beispiel von Hinweisgeberverhalten im Gesundheitswesen
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Whistleblowing – die Weitergabe von Informationen über organisationsinterne Missstände durch Organisationsinsider – steht oft im Geruch der Denunziation, v.a. wenn die Mitteilung nicht an organisationseigene, sondern an organisationsexterne Stellen geht. Aus anderer Warte stellt dieses externe Whistleblowing hingegen ein gesellschaftlich verantwortliches Verhalten dar, das bei der sozialen Kontrolle korporativer Delinquenz unverzichtbar ist. Daher haben sich nicht nur organisationseigene Hinweisgebersysteme als Elemente der Selbstregulierung etabliert, sondern auch amtliche Anlaufstellen, durch die man Hinweisgeber zur staatlichen Informationssammlung gewinnen will. Dass aber die Zulässigkeit des externen Whistleblowings juristisch in einem unberechenbaren und zweideutigen Zwischenstadium verharrt, belegt freilich das anhaltend wirkkräftige Label der Illoyalität. Die gesellschafts- und rechtspolitische Bewertung des Whistleblowings gewinnt an Substanz, wenn man um die Wirklichkeitsdeutungen und Handlungsgründe realer Hinweisgeber weiß. Genau dazu wollte das Projekt einen Beitrag leisten. Es ging ihm darum, typische Verläufe, in denen der Entschluss zum organisationsexternen Meldeverhalten reift und umgesetzt wird, zu rekonstruieren. Es war an den Weichenstellungen und den Faktoren interessiert, die die Richtungen und Dynamiken im Prozess der Entscheidungsbildung beeinflussen. Um sich dem anzunähern, bediente es sich nicht der experimentellen Designs, die in der Whistleblowing-Forschung üblich sind, sondern qualitativer, inhaltsanalytisch ausgewerteter Interviews. Den Kern des Projektes bildete die Befragung von 28 Personen, die aufgrund ihres realisierten Meldeverhaltens als externe Whistleblower einzuordnen sind (bzw. von denen ein solches Meldeverhalten jedenfalls ernsthaft erwogen wurde). Die Aufteilung in eine objektives und subjektives Verlaufsmodell bietet sowohl einen Einblick in die objektive (idealtypischen) Verlaufskausalitäten wie auch in deren subjektive Manifestation und die zugrunde liegenden faktoriellen und dynamischen Rückkopplungen auf den Ebenen der Persönlichkeit, der Situation und Organisation. Die Ergebnisse stimmen weitestgehend mit den Erkenntnissen der international vorherrschenden quantitativen und der vereinzelten qualitativen Forschungslage überein. Auf Persönlichkeitsebene indizieren die Interviewresultate in Übereinstimmung mit dem Stand der empirischen Forschung keine klar umreißbare Whistleblowing-Persönlichkeit, sondern tendenzielle Typisierungen. Ebenso verhält es sich mit einer typischen Whistleblowing-Situation. Legt man die hier untersuchten Entscheidungsprozesse zugrunde, entsteht externes Whistleblowing aus einem subjektiv empfundenen Handlungsdruck, der wiederum aus zwei sich ggf. gegenseitig beeinflussenden Hauptfaktoren erwächst. Maßgeblich sind einmal Art und Ausmaß des jeweiligen (gemeldeten) Missstandes und zum anderen die Beeinträchtigung der persönlichen Integrität/Interessen des Insiders, die ihm entweder durch den Missstand selbst oder durch die innerorganisatorischen Reaktionen auf die erste, noch intern bleibende Missstandsmeldung droht. Typisch ist insofern ein sich spiralförmig aufbauender Konfliktprozess, bei dem der Insider auf seiner Meldung beharrt und deshalb in zunehmend repressiver Weise (durch die Organisation oder einzelne Mitglieder) als Störquelle behandelt wird. Übersteigt dies die persönlichkeitsabhängige Toleranzschwelle, geht der Betroffene zur Einschaltung externer Stellen über. Prägend sind in dieser Phase missstandsunabhängige Motive (Rache, Selbstschutz, Rehabilitation), wobei das eigene Verhalten oft als alternativlos empfunden wird, stets aber nicht mehr als illoyal. Aus Sicht der Organisation ist externes Whistleblowing deswegen eindeutig „hausgemacht“. Angesichts dessen wäre eine Gleichstellung des Hinweisgebers mit dem Modell eines „Ethical Resisters“ wirklichkeitsfremd. Gleichwohl wird durch die Daten nahegelegt, dass viele Hinweisgeber auf Schutzmechanismen angewiesen wären und dass deren Gewährung – anders als die darüber hinausgehende Einrichtung externer Hinweisgebersysteme – auch angezeigt ist.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
-
Die beamtenrechtliche Zulässigkeit des „Whistleblowing“, in: Zeitschrift für Beamtenrecht 2013, S. 8 – 14
Herold
-
Whistleblowing in Europe: regulatory frameworks and empirical research, in: v. Erp, J. u.a. (Hrsg.): Routledge Handbook of White-Collar and Corporate Crime in Europe. London, Routledge, 2015. S. 418-434
Kölbel, Ralf
-
Kommentierung des § 158 StPO (Strafanzeige), in: Münchener Kommentar zur Strafprozessordnung, StPO. Band II, §§151-332 – Erstbearbeitung. Beck, 2016. Buch. XXXIX, 2472 S. ISBN 978-3-406-64682-9
Kölbel, Ralf