Die Wissensräume der ballistischen Photo- und Kinematographie, 1860-1960
Final Report Abstract
Das Forschungsprojekt setzte sich zum Ziel, die Geschichte der ballistisch-explosionsdynamischen Photo- und Kinematographie über einen Zeitraum von 100 Jahren zu verfolgen, der von den ersten Aufnahmen konventioneller Schüsse im Jahre 1858 bis zu den letzten oberirdischen amerikanischen Atombombentests im Jahre 1962 reichte. Durch diesen integrativen Ansatz sollten die historischen Lücken der diesbezüglichen medienwissenschaftlichen Forschung geschlossen und die Einseitigkeiten der dortigen systematischen Darstellung korrigiert werden. Der theoretische Fokus lag auf dem Verhältnis von Wissen und Raum, das auf vier Ebenen analysiert wurde. Die erste Ebene wurde durch die ballistisch-explosionsdynamischen Labore gebildet, in deren soziotechnischen Netzwerken die photo- und kinematographischen Apparate zu den untersuchten Waffen in einem Verhältnis gegenseitiger Interferenz, zu den menschlichen Akteuren in einem solchen der Delegation und Kooperation und zu den anderen Medien in einem solchen der Vergleichung, Kombination, Übersetzung und Assimilation standen; dabei waren die Rollen von epistemischem und technischem Ding nicht klar verteilt. In Abhängigkeit von der räumlichen Ausdehnung der jeweils zu beobachtenden Schüsse und Explosionen handelte es sich ferner um Innen- und Außenraumlabore unterschiedlicher Abmessungen, die mehr oder weniger tief in den militärisch-industriellen Komplex eingelassen waren. Mit dem Übergang von der konventionellen zur nuklearen Waffentechnik erfuhren sowohl die physischen Extensionen als auch die soziotechnischen Netzwerke der Laborräume eine starke quantitative und qualitative Erweiterung. Bei den Atombombentests wurden die Photo- und die Kinematographie im Unterschied zu den anderen Beobachtungsmedien nicht nur für wissenschaftliche Messungen, sondern zugleich für die Publizierung und Popularisierung dieser explosionsdynamischen Experimente genutzt. Dieser Aspekt wurde im Projekt anhand einer großen Gruppe offizieller Lehr- und Propagandafilme sowie sämtlicher Photoreportagen der Publikumszeitschriften Life, Time und Newsweek über die oberirdischen Nukleartests der USA untersucht. Die rhetorische und ästhetische Analyse dieses Materials ergab, dass die Publizierung der Kernwaffentests zwar durch propagandistische Verzerrungen kulturelles Unwissen, zugleich aber durch die Repräsentation der bei den Tests eingesetzten Medien ein Wissen der Metaund Autoreflexion produzierte; diese epistemische Ambivalenz wurde auf der ästhetischen Ebene dadurch bestätigt, dass die fraglichen Bilder schöne und erhabene Züge zugleich aufwiesen. Im szientifischen Bereich, so konnte gezeigt werden, waren die Photographie und der Film den anderen Beobachtungsmedien dadurch überlegen, dass sie neben der zeitlichen auch die räumliche Seite der ballistischen und explosiven Bewegungen erschlossen. Das betraf zunächst einzelne Bewegungspunkte, die in Momentaufnahmen mit kürzesten Belichtungsdauern eingefangen wurden. Diese temporale Anforderung wurde bei Einzelaufnahmen um den exakten Belichtungsmoment, bei Reihenaufnahmen um die schnelle Belichtungsfolge ergänzt. Nicht weniger wichtig als Kurzzeitbelichtungen waren jedoch verschiedene Formen der Langzeitbelichtung, die ganze Bewegungsbahnen sichtbar machten. Durch den Einsatz von Multiperspektivität, Stereoskopie und Radiographie gelang es der Photo- und Kinematographie, auch in die spatiale Tiefendimension der Schüsse und Explosionen einzudringen. Die Exploration der räumlichen Seite dieser Bewegungen ging mit einer Verräumlichung ihrer zeitlichen Seite einher, die eine Konservierung des einzelnen Zeitpunktes, die Simultanisierung mehrerer aufeinander folgender Zeitpunke und eine quasiräumliche Beweglichkeit in der Zeit einschloss. Die spatiale und die temporale Präzision der Photographien und Filme standen zueinander in Beziehungen der Ersetzung wie auch der Entgegensetzung. Durch ihre Erweiterung der visuellen Wahrnehmung ermöglichte die ballistisch-explosionsdynamische Photo- und Kinematographie theoretische Einsichten, die sich wiederum praktisch nutzen ließen. Schließlich durchlief die Photographie eine kontinuierliche Beschleunigung, aus der in einem diskontinuierlichen Umschlag das neue Medium der Kinematographie hervorging. Diese technische Entwicklung fand eine Entsprechung im Einfluss beider Bildmedien auf die Geschichte der Ballistik und Explosionsforschung. Denn während dort das Auftauchen der Photographie in der Mitte des 19. Jahrhunderts keine theoretischen, aber experimentelle Veränderungen bewirkte, lag umgekehrt dem Auftauchen der Atombombe in der Mitte des 20. Jahrhunderts ein theoretischer Umbruch zugrunde, der von der Photo- und Kinematographie auf der experimentellen Ebene überbrückt wurde. Die historische Entwicklung der Ballistik und Explosionsforschung war mithin durch jene quasi-räumliche Schichtung relativ autonomer Entwicklungen auf der theoretischen und der experimentellinstrumentellen Ebene charakterisiert, wie sie von Ian Hacking und Peter Galison für die Geschichte der Naturwissenschaften generell beschrieben worden ist.
Publications
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2011. „Speichern, um zu sehen: Zur Verräumlichung der Zeit in der ballistischen Photo- und Kinematographie“. In: Natalia Filatkina und Martin Przybilski (Hgg.). Orte – Ordnungen – Oszillationen: Raumerschaffung durch Wissen und räumliche Struktur von Wissen. Wiesbaden: Reichert. 165-191
Nowak, Lars
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2011. „Strahlende Landschaften: Zur materiellen und photographischen Öffentlichkeit der amerikanischen Atombombentests“. In: Florian Hoof, Eva-Maria Jung und Ulrich Salaschek (Hgg.). Jenseits des Labors: Transformationen von Wissen zwischen Entstehungs- und Anwendungskontext. Bielefeld: transcript. 279-318
Nowak, Lars
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2011. „The Penetrated Surfaces of Ballistic Photography“. In: Mathias Grote und Max Stadler (Hgg.). Membranes Surfaces Boundaries: Interstices in the History of Science, Technology and Culture. Berlin: Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. 45-7
Nowak, Lars
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2012. „Geschossfunke und Atomblitz: Zur Rolle des Blitzlichtes in der ballistischen Fotografie“. In: Katja Müller-Helle und Florian Sprenger (Hgg.). Blitzlicht. Zürich/Berlin: Diaphanes. 61-96
Nowak, Lars
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2012. „Karte – Kino – Krieg: Zum Gebrauch von Karten in zwei ‚Subgenres‘ des amerikanischen Kriegsfilms“. In: Ders. und Stephan Günzel (Hgg.). KartenWissen: Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm. Wiesbaden: Reichert. 421-449
Nowak, Lars
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2013. „Pilzwolken: Zur epistemischen Multivalenz atomarer Explosionswolken“. In: Dennis Paul und Andrea Sick (Hgg.). Rauchwolken und Luftschlösser: Temporäre Räume. Hamburg: Textem. 21-46
Nowak, Lars