Multimodale Erzählformen in Serie: Die "Yellow Kid"-Zeitungcomics im späten 19. Jahrhundert
Final Report Abstract
Im Zentrum des Projekts steht eine der ersten populären seriellen Comicfiguren des späten 19. Jahrhunderts: das sogenannte 'Yellow Kid' – dies ist ein glatzköpfiger Junge mit abstehenden Ohren und einem breiten Grinsen auf dem Gesicht; er ist barfuß und trägt ein langes gelbes Shirt auf dem Worte in Dialektschreibweise gedruckt stehen. Die Comicfigur hat ihren Ursprung in den New Yorker Massenzeitungen der 1890ger Jahre, The World (Joseph Pulitzer) einerseits und das New York Journal (William Randolph Hearst) andererseits. Die Studie verfolgt ein populärhistorisches Erkenntnisinteresse. Sie zielt darauf, eines der ersten plurimedialen, massenkulturellen Phänomene der Moderne zu verstehen – das Aufkommen und Ausbreiten der seriellen Yellow Kid Figur – und die kulturpolitische Relevanz dieser Comicfigur zu bestimmen. Das Aufkommen der Yellow Kid Comicfigur in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts und ihre plurimediale Proliferation dienen als Fallstudie für die Analyse des populärkulturellen Praxisfeldes zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Das Projekt leistet einen Beitrag zur Populärkulturforschung und insbesondere zur Forschung über serielle Praktiken und Formen im späten 19. Jahrhundert. Die zentrale Argumentationslinie, die sich durch die Forschungsarbeit zieht ist, dass die Popularität und Wirkmächtigkeit der Yellow Kid Comicfigur durch ihre serielle 'Entfaltung' erklärbar sind. Diese Entfaltung ist durch profilierende Dynamiken der Ausbreitung, Wucherung und Multiplikation sowie durch Mechanismen der Wiederholung, Variation und Kopie bestimmt, und diese Mechanismen sind in die ökonomischen Strukturen, Technologien und Ideologien einer kapitalistischen Kultur verstrickt und durch sie hervorgebracht. Das Projekt gliedert sich in zwei Hauptteile mit jeweils zwei bzw. drei Unterkapiteln, die von der Einleitung und der Konklusion flankiert werden. Während es in den zwei Kapiteln des ersten Teils zum einen darum geht, die kulturhistorische Situierung der Yellow Kid Comicfigur nachzuzeichnen und die 'Rückwirkungen', die sich im öffentlichen Diskurs manifestieren, zu bestimmen, und zum anderen, die Implementierung der Yellow Kid Figur und ihre Eigendynamik zu rekonstruieren, so ist der Fokus in den drei Kapiteln des zweiten Teils auf den kulturhistorischen und formal-ästhetischen Zusammenhängen der Zeitungscomicseiten. Die Grundthese ist, dass die Yellow Kid Comics massenkulturelle, kapitalindustrielle Erscheinungsformen kultureller und kulturpolitischer Praxis sind, die neue Perspektiven auf die Auseinandersetzungen mit sozialen und kulturellen Veränderungen in der Progressive Era eröffnen. Die Mischung aus populärer serieller Unterhaltung und öffentlicher gesellschaftskritischer Plattform macht die Yellow Kid Zeitungscomics so wertvoll und wichtig für eine wissenschaftliche Analyse kultureller Deutungsmuster. Dass die Yellow Kid Comics im Geflecht kultureller Diskurse wirksam wurden und neue Konfigurationen von Wissen vermitteln konnten ist durch ihr spezifisches Gestaltungsprinzip begründet. Die Seiten sind bestimmt durch ein Spannungsgefüge profilierender und rekursiver bzw. retroaktiver Mechanismen. Sie offerieren ein komplexes Leseangebot für ein diffuses Adressatentum (bestehend aus Konsumenten der Mittelschicht und der Arbeiterschicht und eines ethnisch heterogenen Immigrantenpublikum), und sie arbeiten gleichzeitig mit einfachen, leicht wiedererkennbaren Merkmalen, die jede Woche anders kombiniert wurden. So wurden Leser mit bestimmten Elementen vertraut gemacht, die mit jeder neuen Episode wiederholt und bestätigt wurden. Um die Serialisierungsdynamiken zu bestimmen, die der Yellow Kid Figur anhaften und durch sie generiert werden, und um die Gestaltungsprinzipien der Comicseiten zu analysieren, greift die Studie auf Theorien und Methoden der Literatur- und Kulturwissenschaft zurück, und zwar auf Konzepte aus der Narratologie und aus dem Forschungsfeld zu transmedia storytelling, auf Theoreme der reception studies sowie der Diskursanalyse und des New Historicism; insbesondere stützt sich die Studie auf Theoretisierungen und Methodologien aus den Arbeiten der Forschergruppe zu Ästhetik und Praxis populärer Serialität. Neben den inhaltlichen Analysen leistet das Forschungsprojekt besondere Archivarbeit: es durchleuchtet Materialien, die bislang in der Forschungsliteratur zum Yellow Kid noch nicht erschlossen worden sind. Die Materialdichte der einzelnen Kapitel wäre ohne die Recherchearbeiten im Ausland nicht möglich gewesen. Auch sorgten die Recherchen in verschiedenen Bibliotheken und Archiven in den USA für überraschende Entdeckungen und halfen dabei, mein Vorverständnis zu reflektieren. Das Forschungsprojekt siedelt sich in der Amerikanistik/ American Studies an, ist aber auch fachübergreifend relevant. Die entscheidende wissenschaftliche Bedeutung des Projekts bezieht sich nicht nur auf den in der amerikanistischen Forschung bislang ausgeklammerten Untersuchungsgegenstand und die in der Studie erstmals fundierte kulturhistorische Situierung der seriellen Yellow Kid Figur; auch die serialitätstheoretische Orientierung sowie die Methodenwahl können für Forschungsarbeiten zu Herstellung, Zirkulation und Nutzung von kulturellen Produkten in anderen Fachbereichen fruchtbar gemacht werden. Mit den Erkenntnissen zu den Gestaltungsprinzipien der Zeitungscomicseiten eröffnet das Projekt einen neuen Ansatz auf die Frühformen des Hybridmedium Comics und entwickelt ein Verständnis mit Bezug auf die kulturelle Arbeit dieser historischen Artefakte.
Publications
- "George Benjamin Luks and the Comic Weeklies of the 19th Century." Journal of Graphic Novels & Comics 3.1 (2012): 69-83
Christina Meyer
- "Urban America in the Newspaper Comic Strips of the Nineteenth Century: Introducing the Yellow Kid." ImageText 6.2 (2012)
Christina Meyer
- "Un/taming the Beast, or Graphic Novels (Re)-Considered." From Comic Strips to Graphic Novels: Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative. Hrsg. Daniel Stein und Jan-Noël Thon. Berlin: De Gruyter, 2013. 271-299
Christina Meyer
- Transnational Perspectives on Comics and Graphic Narratives: Comics at the Crossroads. London et al.: Bloomsbury, 2013
Christina Meyer, Shane Denson und Daniel Stein
- "Topographien des urbanen Raums in Zeitungscomics der Jahrhundertwende." In: Sehnsucht suchen? Amerikanische Topographien aus komparatistischer Perspektive. Hrsg. Christian Bachmann und Simone Sauer-Kretschmer, Berlin: Bachmann, 2014. 169-191
Christina Meyer