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Evakuierungen im deutsch-französischen Grenzraum 1939-1945

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2012 bis 2018
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 209845892
 
Erstellungsjahr 2018

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Evakuierungen sind als spezifische Form kriegsbedingter Zwangsmigrationen bisher wenig erforscht worden, bieten aber einen hervorragenden Angriffspunkt zur Erforschung von Gesellschaften und politischen Regimen im Krieg. Das Projekt untersuchte die flächendeckenden Evakuierungen im deutsch-französischen Grenzraum zu Beginn des Zweiten Weltkriegs in vergleichender und transnationaler Perspektive und bettete sie in einen weiteren zeitlichen und räumlichen Kontext ein. Es fragte nach Mechanismen staatlicher Lenkung, nach Reichweite und Grenzen gesellschaftlicher Mobilisierung, nach Handlungsspielräumen und Eigensinn einzelner Akteure. Gehen Politik und Verwaltung in einer Diktatur mit totalitärem Anspruch anders mit der Massenevakuierung ihrer Zivilbevölkerung um als in einer parlamentarischen Demokratie? Welche ökonomischen und gesellschaftlichen Folgen hatten die Evakuierungen kurz-, mittel- und langfristig für die betroffenen Regionen sowie für Deutschland und Frankreich insgesamt? Wie beeinflussten die Evakuierungen das Verhältnis von (Grenz- )Region und Nation? Und welche Erkenntnisse ermöglicht eine verflechtungsgeschichtliche Perspektive auf diese parallelen, aber noch nie zusammenhängend untersuchten Vorgänge beiderseits der Grenze? Die Grenzraum-Evakuierungen 1939/40 erwiesen sich mit bis zu einer Million Menschen auf deutscher und über 600.000 auf französischer Seite als weitaus umfangreicher als bisher angenommen und damit als die bis dahin größte systematische Evakuierungsaktion der Geschichte. Im nationalsozialistischen System entstanden hier die administrativen Instrumente für die späteren Luftschutz-Evakuierungen und die vielfach zum Völkermord führenden Massendeportationen; die Organisation der Psychiatriemorde nahm hier ihren Anfang. Im Systemvergleich findet die verbreitete Vorstellung, Diktaturen seien in Krisensituationen effizienter als Demokratien, durch den Verlauf der Evakuierungen keine Bestätigung. Konkurrenzgeprägte Strukturen und unklare Zuständigkeiten im nationalsozialistischen Apparat behinderten einen geordneten Ablauf dieser ersten Massenverschiebung von Bevölkerungen im Zweiten Weltkrieg. Gleichzeitig stießen die Evakuierungen vielfältige administrative Lernprozesse an, die die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik im weiteren Kriegsverlauf beeinflussten. Die republikanische, auf Verwaltungsstrukturen seit dem 19. Jahrhundert gründende französische Organisation bewältigte die Herausforderungen in Planung wie Durchführung insgesamt erfolgreicher. In beiden Ländern stellten die Evakuierungen öffentlich propagierte Vorstellungen und Konzepte von nationaler Einheit, Identität und Gemeinschaft nachhaltig in Frage. Der komparative und transnationale, an der histoire croisée orientierte methodische Ansatz des Projektes trägt damit auch zu Forschungsdebatten über polykratische Herrschaftsstrukturen und „Volksgemeinschaft“ im Nationalsozialismus bei. Militärplanung und Militäreinsatz, Folgen für Industriebetriebe, Arbeitskräftemobilisierung und Versorgung, Konflikte zwischen Evakuierten und einheimischer Bevölkerung in den Aufnahmegebieten, Selbst- und Fremdwahrnehmung, Propaganda und die Macht von Gerüchten, Erinnerung und Gedenkkultur gehören zu den Themen, die in drei Forschungsachsen untersucht wurden: Konzepte und politische Systeme, Wirtschaft und Gesellschaft sowie Grenzregionen und Identitäten. Die 1939/40 entwickelten Bestimmungen über die materielle Versorgung der Evakuierten, Entschädigungen an Unternehmen und Einzelpersonen, Requisitionen, Bekämpfung von Plünderung, Wiederaufbau von Orten u.a. wurden nach 1940 beibehalten und zu Schlüsselelementen öffentlicher Verwaltung während und nach dem Krieg, unter anderem im französischen Exode im Juni 1940. Auf wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Ebene schufen oder stärkten die Evakuierungen Verbindungen und Vernetzungen zwischen den Evakuierungsgebieten und ihren Nachbarregionen wie auch dem Landesinnern. Zugleich entwickelten sie sich in den Grenzregionen zu einem Erinnerungsort und werden in jüngerer Vergangenheit als eine shared history wahrgenommen. Aus dem Projekt sind bisher vier Monographien, drei Synthesebände und zahlreiche Aufsätze hervorgegangen, weitere Publikationen sind in Arbeit. Sie weisen Evakuierungen als ein fruchtbares Forschungsfeld aus und bieten konzeptuelle Anknüpfungspunkte für zahleiche weitere Studien.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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