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Herzen aus Fleisch - nicht aus Stein. Beeinflusst die Begegnung mit dem Leiden des Anderen (ESO) die Bereitschaft, sich inmitten eines Konflikts zu versöhnen?

Fachliche Zuordnung Politikwissenschaft
Förderung Förderung von 2013 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 229570262
 
Erstellungsjahr 2022

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Versöhnungsforschung gibt es erst seit den 1990er Jahren. Ihr geht es um die Erforschung der Frage, wie Staaten, Gesellschaften, Organisationen, Gruppen und Individuen nach schweren Vorkommnissen wieder zusammenfinden. Das Projekt „Hearts of Flesh – not Stone“ war das erste große, interdisziplinäre Forschungsprojekt in Deutschland, Israel und den Palästinensergebieten zu dieser neuen Forschungsfeld. Es behandelte die für zahlreiche Konflikte bestehende Situation, dass in der Öffentlichkeit, in Schulen, in den Medien und in Familiengesprächen das Leiden der gegnerischen Gruppe nicht bekannt ist oder aktiv geleugnet und verkleinert wird. Dies trifft auch für Israelis und Palästinenser zu. Die meisten Israelis wissen nicht viel über - oder leugnen gar - die Vertreibung der Palästinenser im Zusammenhang der Nakba (1948) und die meisten Palästinenser wissen nicht viel über – oder leugnen gar – den Holocaust (1941-1945). Der Ansatz des Projektes war, durch Besuche an Orten wie Auschwitz und Buchenwald, wie Ramle und in einem Flüchtlingslager bei Ostjerusalem sowie durch begleitende Kurse eine Begegnung mit dem Leiden der anderen Gruppe zu ermöglichen. Durch diese Begegnungen erkannten ausnahmslos alle Teilnehmer:innen der Projekte Realität und Ausmaß des Leidens der anderen Gruppe an. Der größte zusätzliche Schritt in Richtung Versöhnung war, dass bei zahlreichen Israeli:tinnen eine reflektierte Einstellung zur eigenen Geschichte eintrat, die man als Position Tragik-sensibler Wahrhaftigkeit (TSW) bezeichnen kann. Sie äußerte sich in Aussagen wie: „Die Juden brauchen einen Staat um sicher zu sein. Der Staat wurde aber auf dem Land der Palästinenser gegründet und dadurch ist neues Unrecht geschehen.“ Bei den Palästinenser:innen war die Reaktion sehr häufig: „Wenn den Juden das angetan wurde, warum behandeln sie und nicht anders?“ Diese Position kann man als Empowerment zu menschlichsensibler Kommunikation mit dem Gegner (ESK) bezeichnen. Beide Positionen lassen einseitig nationalistische Narrative hinter sich und erkennen das Leiden der Anderen an. Beide Positionen spielen eine große Rolle am Anfang von Versöhnungsprozessen, noch bevor es zu Entschuldigungen oder Vertrauen kommt. TSW und ESK zeigten in den Experimenten überraschende Eigenschaften wie eine gesteigerte Loyalität zur eigenen Gruppe und ihrem nun reflektiert veränderten Narrativ. Zwar wurden auch Gefühle wie Empathie, Sympathie, weniger Angst gegenüber der gegnerischen Gruppe durch die Fragebögen gemessen. Weitere Prozesse in Richtung Versöhnung sind aber offensichtlich blockiert durch das Fehlen eines politischen Partners und einer Situation, die Hoffnung vermitteln würden. Die emotionalen Effekte waren nicht so groß und führten auch nicht so eindeutig auf den Willen zur Versöhnung hin wie als Hypothese am Anfang des Projekts vermutet. Reflektierte Anerkennung der Wirklichkeit führte bei einem relativ großen Teil der Teilnehmer zum Teilen der Erkenntnisse über das Experiment hinaus und zu dem Wunsch selbst mehr herauszufinden. Alle genannten Effekte erwiesen sich als nachhaltig in den Tests, die ein Jahr später gemacht wurden. Zusätzlich zu den Feldexperimenten wurde in Laborexperimenten in Jena und in Tel Aviv der positive Einfluss von Respekt auf Versöhnungsbereitschaft, Selbstwirksamkeit als grundlegendes Bedürfnis von Opfern und die Unterscheidung zwischen Opfer-sein und Opferidentität haben untersucht. In weiteren Studien wurden untersucht: Reue und Bedauern als Erleben von Unwiderruflichkeit und Unwiederbringlichkeit der Zeit, die große Bedeutung von religiösen und sozialen Ressourcen für Versöhnungsprozesse, die besondere Erfahrung palästinensischer Flüchtlingsfrauen und ihre Sicht auf Versöhnung und Märtyrertum, die Bedeutung von Schulbüchern zur Weitergabe von Feindbildern und die Möglichkeiten, sozialen Medien zur Förderung von Versöhnung zu nutzen. Alle diese Einzelstudien tragen zu einem besseren Verständnis der Feldexperimente bei. Im Projektverlauf war die größte Überraschung, dass unsere erste Reise nach Auschwitz von der Zeitung Haaretz ausgehend ein weltweites, sehr positives Presseecho in den renommiertesten Zeitungen der Welt (New York Times, Washington Post, Le Monde, La Repubblica, Die Zeit, Die Welt usw.) erzielte, weil dargestellt wurde, dass sie die erste von Palästinensern aus der Westbank selbst organisierte und durchgeführte Reise einer größeren Gruppe nach Auschwitz war. Kurz darauf folgte auch die Erklärung des Präsidenten der Palästinenser Mahmut Abbas, dass der Holocaust „the most heinous crime to have occured against humanity in the modern era“ war. Eine Teilnehmerin der palästinensischen Gruppe schrieb einen längeren Artikel für die Zeitschrift „The Atlantic“, in dem sie ihre Motive und Erfahrungen unter den Leitbegriff des „in den Schuhen der anderen Gehens“ darstellt (Barakat, Zeina (2014), "A Palestinian Student Defends Her Visit to Auschwitz", The Atlantic, April 28, 2014. Link to the article: http://www.theatlantic.com/international/archive/2014/04/apalestinian-student-defends-her-visit-to-auschwitz/361311/ ). Mehrere andere Palästinenser äußerten sich in Medien in den Palästinensergebieten.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

 
 

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