Struktur und Organisation der frühmittelalterlichen Wirtschaft und Gesellschaft im ostfriesischen Küstengebiet: Die Siedlungskammer Dunum, Ldkr. Wittmund, als Modellregion
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Mit den im Rahmen des beschriebenen Forschungsvorhabens durchgeführten Untersuchungen gelang eine detaillierte Rekonstruktion der diachronen Entwicklung der während des Frühmittelalters im Umfeld der heutigen Ortschaft Dunum (Ldkr. Wittmund) überlieferten Besiedlungsstrukturen sowie der in dieser Region agierenden Gesellschaftsverbände. Mit den ältesten, in die Mitte des 7. Jahrhunderts zu datierenden Bestattungen des Gräberfeldes lassen sich im Nachgang der so genannten „Siedlungslücke“ des 6. Jahrhunderts erstmals wieder anthropogene Aktivitäten im Umfeld der Harlebucht fassen. Dabei erfolgte die Anlage des Begräbnisplatzes sicherlich nicht zufällig in einer Gegend, die vor allem durch markant hervorgehobene vorgeschichtlichen Grabhügel und den imposanten Steinsetzungen eines Megalithgrabes geprägt wurde. Als einzig verbliebenen Spuren menschlicher Aktivitäten boten diese Gräber den Neusiedlern wohl nicht nur spirituellen Halt; schließlich konnten durch die Nähe zu den Bestattungen der mutmaßlichen Ahnen auch Besitzansprüche auf die zu bewirtschaftenden Flächen gerechtfertigt bzw. legitimiert werden. Art und Zusammensetzung der in den ältesten Gräbern erhaltenen Beigabenensemble, die auch Gegenstände überregionaler Provenienz umfassten, lassen auf eine bereits wirtschaftlich und gesellschaftlich strukturierte Gesellschaft schließen. Erst mit mehreren Jahrzenten Verzögerung sind zu Beginn des 8. Jahrhunderts im Umfeld des Bestattungsplatzes erste Siedlungsspuren fassbar. Die Ansiedlung auf der heutigen Flur Darpstätte befand sich an einer tief in die Halbinsel einschneidenden Bucht, über welche Zugang zur Harlebucht bestand. Erst mit einer Verzögerung von mindestens zwei bis drei Generationen erfolgte auch eine Nutzung der weiter westlich im Inland gelegenen Areale. Die Siedlungsplätze Oldewarfe Nord und Oldewarfe Süd befanden sich ebenfalls an den Randbereichen der Halbinsel. Offenbar suchte man hier jedoch nicht mehr die unmittelbare Nähe zum Gräberfeld. Alle drei Siedlungen besaßen übereinstimmende Befundstrukturen. Diese verwiesen auf handwerkliche Tätigkeiten, die offensichtlich die ökonomische Basis der ansässigen Bevölkerung bildeten. Schwerpunkte könnten im Bereich des Bootsbaus und der Eisenverarbeitung gelegen haben. Dass im Bereich der Siedlungen eine ausreichende materielle Basis zu erwirtschaften war, belegen nicht zuletzt die Untersuchungen an Befunden und Funden des Gräberfeldes. So spiegeln Herrichtung und Ausstattung der Toten einen hoch gestellten ökonomischen Anspruch der bestattenden Gesellschaft(en). Zugleich fallen bei den anthropologischen Analysen die nur selten nachweisbaren Mangelerscheinungen und das überdurchschnittlich hohe Sterbealter auf. Große Teile der Bevölkerung hatten zudem Zugang zu bescheidenen Luxusgütern, vor allem aus Glas und Edelmetallen, aber auch farbigen Textilien. Gleichzeitig offenbaren die Beobachtungen an den Grabbefunden sowie an überlieferten Inventarbestandteilen tatsächlich nur schwach ausgeprägte gesellschaftliche Gliederungen. Während die ältesten Bestattungen noch zwei Schwertgräber sowie Beisetzungen mit Pfeilspitzen umfassen, fehlen in den folgenden Generationen Waffenträger vollständig. Militärisch geprägte Hierarchien dürften innerhalb der lokalen Gesellschaft eine allenfalls untergeordnete Rolle gespielt haben. Auch nach vollständiger Aufnahme aller im Gräberfeld erhaltenen Artefakte bleibt die Gruppe der Fremdgüter klein. Dennoch belegen diese, wie auch die im Bereich der Siedlungen aufgedeckten Bruchstücke von Handmühlen aus Basaltlava einen kontinuierlichen Zugang zum überregionalen Warentransport. Die zwischen der Mitte des 7. Jahrhunderts bis zum Ende des 9. Jahrhunderts zu datierende Phase beigabenführender Bestattungen spiegelt über lange Zeiträume beibehaltene Gesellschaftsstrukturen wieder. Zugleich offenbaren sich in den Befunden und Funden verschiedene Bestattungssitten, welche wiederum eine allgemeine Akzeptanz vielfältiger ritueller Handlungen vermuten lassen. Umso bemerkenswerter erscheint der abrupte Abbruch dieser traditionellen Praktiken. Vermutlich ist die Anlage von ausnahmslos beigabenlosen Gräbern mit einem bestimmten gesellschaftlichen Ereignis, vermutlich im Kontext der Christianisierung in Verbindung zu bringen. Weiter ist festzustellen, dass die Aufgabe des Bestattungsplatzes und der benachbarten Siedlungen sowie die Einführung der Eschkulturen nahezu gleichzeitig stattfand. Dabei werden nicht nur alle Siedlungen etwa 1km nach Osten verlegt, sondern auch das große Gräberfeld zeitnah mit Esch überdeckt und in der Folge ausschließlich landwirtschaftlich genutzt. Die Einführung des neuen Wirtschaftssystemes führt also zu einem Abbruch aller, zumindest archäologisch fassbarer Traditionen. Es erfolgte eine Neugliederung der gesamten Siedlungskammer, deren Spuren sich bis heute in im Verlauf und in der Anordnung der Strassen- und Wasserwege ablesen lässt.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- 2015: Das Bootsgrab aus dem frühmittelalterlichen Gräberfeld von Dunum, Ldkr. Wittmund. Nachrichten des Marschenrates zur Förderung der Forschung im Küstengebiet der Nordsee 52,46-48
Siegmüller, A., u. Peek, C.
- 2015: Die frühmittelalterliche Siedlungskammer mit Gräberfeld in Dunum, Ldkr. Wittmund (Ostfriesland). Siedlungs- und Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet 38, 199-216
Peek, C., Siegmüller, A., u. Jöns, H.
- 2016: Nadelröhrchen – ein praktisches Accessoire der Frauen in karolingischer Zeit. Zur Funktion und Trageweise der Nadelröhrchen aus dem Gräberfeld Dunum, Ostfriesland. Archäologie in Niedersachsen 19, 62–64
Peek, Chr., Siegmüller, A.
- 2016: Naturwissenschaftliche und landschaftsarchäologische Untersuchungen an dem frühmittelalterlichen Gräberfeld von Dunum, Ldkr. Wittmund, Ostfriesland – ein Zwischenbericht. Siedlungs- und Küstenforschung im südlichen Nordseegebiet 39, 255–272
Peek, Chr., Siegmüller, A.
- 2017: „Eine Sinfonie von braun in braun…“ Archäologie in Niedersachsen 20, 109-112
Peek, C., u. Siegmüller, A.