Fiktive Anthologien in der bulgarischen Literatur der Post/Moderne: Kreation des Kanons als Kunst
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Jahr 1910 erfindet der bulgarische Modernist Penčo Slavejkov (1866-1912) eine komplette Literatur im Miniaturformat. Neunzehn Dichter:innen bevölkern seine Insel der Seligen (Na Ostrova na Blažennite), so der Titel der fiktiven Anthologie, in der Slavejkov seine Schöpfungen auftreten lässt. Das Erfinden von Autor:innen ist ein beliebter Spaß in der Weltliteratur. Warum aber wird gleich eine ganze Anthologie simuliert? Anthologien gelten gemeinhin eher als trockene Metagattung der Literatur, ungeachtet ihrer aus dem Griechischen abgeleiteten Blütenmetaphorik. Sie prägen jedoch bis heute maßgeblich Vorstellungen von National- und Weltliteraturen, wirken als stille Agenten der Kanonbildung und üben damit kulturelle Definitionsmacht aus. Die vorliegende Studie entwickelt vor diesem Hintergrund den Begriff der Anthologiefiktion, der über den bulgarischen Spezialfall in die slavischen Literaturen hinein- und wieder herausreicht. Der Begriff bezeichnet Bücher, in denen erfundene Autor:innen und ihnen zugeschriebene Texte in anthologischer, d.h. nach Epochen, Gattungen oder Stilistiken systematisierter Weise gruppiert werden. Gerahmt werden sie zumeist mit einer detaillierten Herausgeber- oder Übersetzungsfiktion. Das heißt: eigenen ‚Erzählungen‘, in denen die Figur des vorgeblichen Anthologisten plausibel gemacht und in oft hoher Detailfreude beschrieben werden. Anthologiefiktion ist ein so amüsantes wie doppelbödiges Spiel mit den Grundfragen der Literatur: der Institution moderner Autorschaft, der Natur der Fiktion, der Macht des Kanon, den Ungleichgewichten innerhalb der europäischen und der ‚Weltliteratur‘. Sie ist damit eine Form der Metaliteratur, die Funktionsweisen der Literatur performativ hinterfragt, vergleichbar ihrer ‚Schwester‘, der fiktiven Lexikographie à la Jorge Luis Borges. Ihre anthologisch inventarisierten literarischen Felder offenbaren darüber hinaus alternative mental maps der europäischen und der Weltliteratur. Penčo Slavejkov positioniert seine Insel selbstbewusst europäisch. Und das ist auch der Ansatz des hier vorgestellten Buchs. Die universitär wie im breiteren Lesepublikum wenig bekannte ‚Balkan‘-Literatur soll nicht eng nationalliterarisch als exotische Marginalie behandelt werden, sondern in ihren europäischen ‚Verflechtungen‘. Innerhalb dieser europäischen Verflechtungsgeschichte führen die hier vorgelegten Studien zurück in die schottische Aufklärung zu James Macphersons berühmter Ossian-Fälschung, in den französischen Symbolismus (Paul Verlaines Verfemte Dichter) oder das russische silberne Zeitalter (Valerij Brjusovs gefälschte Russische Symbolisten). Sie führen aber auch über Slavejkovs Epoche und Lebenszeit hinaus ins 20. und 21. Jahrhundert, auf der Suche nach aufschlussreichen typologischen Vergleichen etwa im Werk des polnischen Futurologen Stanisław Lem. Schließlich wagt das Buch einen abschließenden ‚illegitimen Vergleich‘ des bulgarischen Anthologiespiels mit der Anthropophagie (der kulturellen Menschenfresserei) des brasilianischen Dichters Oswald de Andrade. Die Stichworte der ‚Verflechtung‘ und des ‚illegitimen Vergleichs‘ stecken den theoretischen Horizont ab, in dem sich das Buch positioniert. Erstere zielt auf die Analyse von nationenübergreifenden zirkulären Bewegungen von Gattungen, Verfahren oder Narrativen. Letztere auf den möglichen Erkenntnisgewinn, der aus der Gegenüberstellung scheinbar unvereinbarer Phänomene zu ziehen ist. Sie verweisen auf die aktuellen literaturtheoretischen Debatten nach dem Ende der großen Erzählung der Postmoderne, wenn Entangled Histories, Histoire Croisée und Globalgeschichte nach neuen Wegen und Verfahren des Vergleichens suchen. Die hier vorgestellte Studie etabliert die Anthologiefiktion als eine Form der Metaliteratur, die – vergleichbar der Lexikonliteratur Borgesscher Provenienz – Strukturprinzipien literarischer Ordnung problematisiert und erschließt dabei die bulgarische Literatur komparatistisch. Schließlich testet sie die genannten literaturtheoretischen Großnarrative der vergangenen Jahrzehnte – Postmoderne / Postkolonialismus, Entangled Histories, illegitimes Vergleichen – exemplarisch anhand von Slavejkovs Anthologiespielen. Sie befragt deren Potenzial, ‚kleine‘ Literaturen zu globalisieren und leistet damit einen Beitrag zu aktuellen literaturtheoretischen Debatten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- „‚Papa Hamlet‘ (1889): Mistifikacionnijat proekt na Arno Holz i Johannes Schlaf kato vǎzmožen istočnik za „Na Ostrova na blaženite" [„,Papa Hamlet‘ (1889). Eine Mystifikation von Arno Holz und Johannes Schlaf als mögliche Quelle für die ‚Insel der Seligen‘“]. In Penčo Slavejkov. 150 godini ot roždenieto mu, herausgegeben von Elka Trajkova, Mirjana Janakieva, Al. Antonova und Penka Vatova. Sofija: IC „Bojan Penev", 2017: 173–190
Henrike Schmidt
- „Kredit i džebčilǎk. Kǎm ikonomičeskata metaforika pri Penčo Slavejkov [Kredit und Taschendiebstahl. Zur ökonomischen Metaphorik bei Penčo Slavejkov]“. In P.P. Slavejkov, Dr. K. Krǎstev, St. Michajlovski. Literatura i socialen opit, herausgegeben von Bojko Penčev, Nadežda Stojanova, Sirma Danova und Kristina Jordanova. Sofija, 2018: 189–202
Henrike Schmidt
- Anthologie-Spiele als multiple Ich-Entwürfe. Beispiele aus
den slavischen Literaturen (P. Slavejkov, V. Brjusov, S. Lern. In: Ich-Splitter (Cross-)Mediale Selbstentwürfe in den Slawischen Kulturen. Hg. Von Gernot Howanitz und Ingeborg Jandl. Wiener Slawistischer Almanach Sonderband 96 (2019): pp. 57–82.
Henrike Schmidt
(Siehe online unter https://doi.org/10.3726/b15363) - Themenheft: Penčo Slavejkov (1866–1912). Zeitschrift für Slawistik Band 64 (2019)
Henrike Schmidt
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/slaw-2019-0002) - „‚Die Erfindung der Gegenwart‘. Penčo Slavejkovs fiktive Anthologie Auf der Insel der Seligen (1910) im Kontext europäischer Mystifikationspoetiken“. Zeitschrift für Slawistik 64, Nr. 1 (2019): 40–66
Henrike Schmidt
(Siehe online unter https://doi.org/10.1515/slaw-2019-0004)