Politische Herrschaft in der Sowjetunion: Anastas Mikojan (1895-1978)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Zu den markantesten Gestalten der politischen Geschichte der Sowjetunion zählt der Armenier Anastas Mikojan (1895-1978). Fast fünf Jahrzehnte lang, vom Beginn der 1920er bis zur Mitte der 1960er Jahre, gehörte er als Politbüromitglied dem engsten Führungszirkel von Partei und Staat an. Als Volkskommissar zählte er zu den wichtigsten Entscheidungsträgern im Staats- und Wirtschaftsapparat. Zielsetzung des Projekts ist es, Mikojans Leben und politische Laufbahn erstmals auf breiter Quellengrundlage zu untersuchen und in Gestalt einer Biographie darzustellen. Dieses Vorhaben wird von drei miteinander verknüpften Fragestellungen strukturiert: Welche Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten besaß ein Spitzenfunktionär wie Mikojan im politischen System der Sowjetunion? Welche Ziele und Interessen verfolgte Mikojan als Volkskommissar und Wirtschaftsführer? Wie leitete Mikojan die ihm unterstellten Behörden, und wie ging er als Volkskommissar mit den Problemen der administrativen Kommandowirtschaft um? Diese drei Fragen sollen die Biographie leitmotivisch durchziehen. Sie werden mit der Rekonstruktion von Mikojans Lebensweg und politischen Aktivitäten verknüpft. Dem Projekt liegt die Überzeugung zugrunde, dass der biographische Ansatz ein Erklärungspotential besitzt, welches über ein historisches Individuum hinausreicht und auf größere Zusammenhänge verweist. Mikojan wird als repräsentativer Vertreter der stalinistischen Führung untersucht. Er steht stellvertretend für eine größere Gruppe. Dank einer sehr guten Quellenlage kann ein anschauliches und differenziertes Bild von Mikojans Leben und politischer Tätigkeit vor dem Hintergrund der Neuen Ökonomischen Politik und des Stalinismus gezeichnet werden. Das Projekt hat dazu beigetragen, den Forschungsstand zur politischen Geschichte der Sowjetunion und ihren führenden Akteuren zu erweitern und zu vertiefen. Mikojans Beteiligung an zentralen politischen Vorgängen und sein Anteil an der Entstehung und Entfaltung des stalinistischen Wirtschaftsystems können anhand einer Fülle empirischer Daten detailliert nachvollzogen und überzeugend belegt werden. Anhand eines Spitzenfunktionärs und Behördenleiters wie Mikojan können administrative Strukturen und Funktionsabläufe jenseits des inzwischen gut erforschten Politbüros erschlossen werden. Mikojan eignet sich gut dafür, dem Typus des sowjetischen Modernisierers und Wirtschaftsführers näherzukommen. Das Projekt kann damit eine Relevanz beanspruchen, die über ein ausgewähltes historisches Subjekt hinausreicht und zum besseren Verständnis überindividueller Zusammenhänge beiträgt. Der biographische Ansatz gestattet es, aus der Perspektive eines repräsentativen Akteurs wie Mikojan darzulegen, wie historische Subjekte in der frühen Sowjetunion neuartige Strukturen schufen, welche soziokulturellen Prägungen und welche Antriebskräfte dabei ausschlaggebend waren und wie die Strukturen auf die Akteure zurückwirkten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Der Gewaltmensch Stalin im Spiegel von Dimitrovs Tagebuch. In: Zeithistorische Forschungen 5 (2008) S. 142-150
Jörg Baberowski
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Die Partei der Patrone und Klienten. Formen personales Herrschaft unter Leonid Breznev. In: Annette Schumann (Hrsg.), Vernetzte Improvisationen. Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und der DDR, Köln u.a. 2008, S. 57-76
Jörg Baberowski
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„Das Haupt unserer Partei und unseres Staates". Führerkult und Führerherrschaft unter Leonid Breznev. In: Benno Ennker/Heidi Hein-Kircher (Hrsg.), Der Führer im Europa des 20. Jahrhunderts, Marburg 2010, S. 200-215
Jörg Baberowski