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Taxonomien des Selbst. Zur Genese und Verbreitung kalkulativer Praktiken der Selbstinspektion.
Antragsteller
Professor Dr. Uwe Vormbusch
Fachliche Zuordnung
Soziologische Theorie
Förderung
Förderung von 2015 bis 2019
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 270582264
Die Genese des modernen Kapitalismus war immer schon mit Innovationen im Feld der Kalkulation, insbesondere der Doppelten Buchführung verbunden (Sombart 1987[1916], Weber 1920, Vormbusch 2012a). In der Soziologie ist Kalkulation bislang vor allem anhand von Steuerungsinstrumenten wie Kennziffern und Benchmarking untersucht worden. Diese verbreiten sich seit dem 19. Jahrhundert zunächst im ökonomischen Kern moderner Gesellschaften. Seit den 1990er Jahren dehnen sie sich in noch nicht durchökonomisierte Felder wie Bildung und Gesundheit aus. Das New Public Management ist hierfür ebenso ein Beispiel wie internationale Bildungsvergleiche (PISA). Seit wenigen Jahren können wir einen dritten Schub der Quantifizierung beobachten, sichtbar an der Entwicklung von derzeit noch sehr heterogenen Taxonomien und Bewertungspraktiken, die die Alltagswelt, den menschlichen Körper und das Subjekt erfassen. Im Unterschied zu den ersten beiden Phasen sind nun nicht nur Märkte, Organisationen und systemische Prozesse Objekt kalkulativer Bewertungen. Es sind die Subjekte selbst, die neuartige Praktiken einer quantifizierenden Selbstbeobachtung zu entwickeln beginnen: Von der Messung des Schlafverhaltens, der sportlichen und sexuellen Aktivität über die Auswertung von Gefühlsschwankungen und der Arbeitsproduktivität bis zum Teilen dieser Daten im Internet bildet sich ein breites Spektrum kalkulativer Sozialpraktiken. Das Projekt untersucht solche Praktiken der Selbstvermessung und -optimierung, die bislang in beschränkten sozialen Kreisen von Self-Trackern und Self-Quantifiern zu beobachten waren und aktuell auf dem Sprung zu ihrer gesellschaftlichen Verallgemeinerung stehen. Diese Formen der Selbstinspektion werden anhand der Genese einschlägiger Bewertungssysteme (Taxonomien) und alltäglicher Selbstvermessungspraktiken untersucht. Dabei steht das individuelle Sich-Vermessen als ein alltägliches Kultur- und Praxisphänomen im Zusammenhang sowohl der entgrenzten Leistungsanforderungen in der modernen Arbeit als auch der entstehenden Massenmärkte für Selbstvermessungsprodukte. Durch die Analyse dieser drei Aspekte soll ein umfassendes soziologisches Verständnis der Taxonomien des Selbst in der Gegenwartsgesellschaft erlangt werden. Die Schnittmenge der resultierenden drei Teilprojekte erlaubt einen doppelten Erkenntnisgewinn: Erstens wird anhand des vernetzten und kalkulierten Selbst die Kulturbedeutung der Kalkulation weit über Organisation und Markt hinaus analysiert und damit eine Leerstelle der soziologischen Gegenwartsdiagnose gefüllt. Zweitens werden die Widersprüche des dritten Schubs der Quantifizierung herausgearbeitet, insofern Selbstvermessungspraktiken einerseits emanzipative Potentiale des Sich-selbst-Entdeckens beinhalten, andererseits die Gesamtheit individueller Lebensvollzüge den Maßstäben einer instrumentellen Rationalität unterworfen zu werden droht.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen