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Anlageträger. Genetisches Wissen und die Entstehung einer neuen biosozialen Identität

Fachliche Zuordnung Soziologische Theorie
Förderung Förderung von 2015 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 275165774
 
Das Vorhaben untersucht die gesellschaftlichen Kontexte, Implikationen und Effekte eines neuen genetischen Testverfahrens, des sogenannten erweiterten Anlageträger-Screenings oder expanded carrier screening (ECS). ECS soll Paare mit Kinderwunsch möglichst schon vor einer Schwangerschaft darüber informieren, ob beide Partner die genetische Anlage für die gleiche seltene, rezessiv vererbte gesundheitliche Beeinträchtigung tragen, also „Anlageträger_innen“ (carrier) sind. Dann bestünde für ein Kind des Paares eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, von jedem Elternteil jeweils die krankheitsbedingende Genvariante zu erhalten; die Anlageträger_innen selbst haben dagegen weder Symptome noch ein Erkrankungsrisiko. Da vermutlich jeder Mensch eine oder mehrere rezessive Anlagen aufweist, richtet sich ECS potentiell an die gesamte Bevölkerung als Zielgruppe. ECS ist von kommerziellen Labors entwickelt worden und wird seit 2009 über das Internet an selbstzahlende „Kund_innen“ (direct-to-consumer) vermarktet. In der Projektarbeit ist analysiert worden, wie der neuen Personenkategorie der Anlageträger_innen im kommerziellen Marketing sowie im medizinischen und bioethischen Diskurs durch die Zuschreibung von Risiken, Verantwortlichkeiten und Handlungsoptionen spezifische Konturen verliehen werden. Zugleich wurde untersucht, inwieweit diese Rahmungen in Praktiken der individuellen und familiären Selbstdeutung aufgegriffen, modifiziert oder zurückgewiesen werden. Gezeigt hat sich, dass der Umstand, (mutmaßlich) Anlageträger_in zu sein, weniger als identitätsprägend gedeutet, sondern mit der subjektivierenden Übernahme vergeschlechtlichter Verantwortlichkeiten verknüpft wird. Jedoch scheint das Bemühen, Individuen oder Paare ohne Symptome und ohne jede familiäre Krankheitsgeschichte möglichst schon vor einer Schwangerschaft zu testen, bisher bei vielen Menschen auf ein relativ schwaches Interesse zu stoßen. Strategien zur „erfolgreichen“ Motivierung der Zielgruppe gewinnen daher besondere Bedeutung sowohl für die Verbreitung von ECS wie für seine gesellschaftlichen Effekte.Der zusätzliche Forschungsbedarf für die Fortsetzungsphase entsteht aus zwei neuen Entwicklungen, die vermutlich die bisherige kommerzielle Angebotsstruktur gravierend verändern werden: Sowohl die 2015 einsetzende internationale Debatte um eine „verantwortliche“ und „erfolgreiche“ Implementierung von ECS in öffentliche Gesundheitssysteme als auch parallele Tendenzen, Anlageträger-Screening in andere genetisch-reproduktionsmedizinische Technologien zu integrieren, werden neuartige Formen der Adressierung, Verantwortungszuschreibung und Geschlechterasymmetrie hervorbringen. Die Analyse dieser Entwicklungen stellt eine entscheidende Ergänzung und Vertiefung der bisherigen Forschung dar. Zudem können dabei wichtige Einsichten für eine vielleicht bald auch in Deutschland beginnende Diskussion um die Einbeziehung von ECS in das öffentliche Gesundheitssystem gewonnen werden.
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
 
 

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