Carriers: genetic knowledge and the emergence of a new biosocial identity
Final Report Abstract
Am bisher soziologisch wenig untersuchten Beispiel "expanded carrier screening" konnte das Vorhaben die Vielschichtigkeit sowie die grundsätzliche Offenheit und Nicht-Determiniertheit der Entwicklung und (möglichen) Etablierung neuartiger biomedizinischer Technologien nachzeichnen und verdeutlichen. Es bietet damit nicht nur eine differenzierte soziologische Analyse von ECS und seinen potentiellen sozialen Effekten, sondern leistet darüber hinaus einen wesentlichen Beitrag zu einem vertieften sozialwissenschaftlichen Verständnis aktueller Entwicklungen und Dynamiken in Biomedizin, Bioethik und Biopolitik. Dabei wurden thematisch relevante soziologische Konzepte wie Biosozialität, Gen-Welten und Präventionsregime produktiv aufgegriffen und weiterentwickelt. Als überraschend erwies sich im Projektverlauf erstens der Umstand, dass Wissen über rezessive Anlageträgerschaften offenbar kaum als relevant für die je eigene Identität und Selbstdeutung wahrgenommen, aber gleichzeitig eng mit moralischen Verantwortlichkeiten der carrier (Reproduktionsverantwortung und Informationsweitergabe an genetisch Verwandte) verbunden wird. Dabei konnten neuartige Formen und Figuren der biopolitischen Subjektivierung herausgearbeitet werden, etwa die „vorschwangere“ Frau oder das „Anlageträger*innen-Paar“ (carrier couple), das eine informierte, autonome und/oder verantwortliche Reproduktionsentscheidung treffen soll. Auffallend ist zweitens, wie stark die Entwicklung reproduktions-medizinisch-genetischer Testverfahren wie ECS von technischen Innovationen und ökonomischen Akteuren geprägt und vorangetrieben wird, während medizinische Rationalitäten und ethische Diskurse sich, wie am Fall ECS beispielhaft zu beobachten ist, immer wieder gezwungen sehen, sich der ökonomisch-technischen Dynamik im Nachhinein anzupassen. Besonders unerwartet war die von kommerziellen Anbietern vorgenommene Verknüpfung von ECS mit der Analyse der fötalen DNA-Fragmente im Blut der schwangeren Frau, weil sie zentrale Postulate eines medizinisch und bioethisch „korrekten“ Anlageträger*innen-Screenings bewusst umgeht und unterläuft. Drittens schließlich war es höchst bemerkenswert zu sehen, wie schnell von Bioethiker*innen angesichts neuer Test- und Präventionstechnologien (vorschwangerschaftliches Anlageträger*innen-Screening in Verbindung mit PID) überwunden geglaubte, tendenziell eugenische Vorstellungen (obligatorische Prävention von Krankheiten, die „schlimmer als die Nicht-Existenz“ seien) wieder aufgegriffen werden. Parallel dazu wird der liberale Rahmen für den Einsatz reproduktionsmedizinischer Technologien (freiwillige Test-Nutzung und von externen Vorgaben unbeeinflusste Reproduktionsentscheidung) unter Berufung auf vermeintliche moralische Pflichten „verantwortlicher“ Eltern ausgehöhlt und in Frage gestellt.
Publications
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Wehling, Peter, Beatrice Perera und Sabrina Schüssler
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