Pedagogics of the "Gülen movement". Reconstruction of Educational Practices and Biographies in Turkish Muslim Conversation-Circles.
Final Report Abstract
Das durchgeführte Forschungsprojekt war der praxeologischen und biographischen Analyse von Bildung in einem global aktiven Bildungsnetzwerkes gewidmet. Dieses Ziel wurde mittels intensiver und langjähriger Feldforschung in Form einer Teilnehmenden Beobachtung in sohbetler (muslimische Gesprächs- und Bildungskreise) mit unterschiedlicher Gruppenzusammensetzung an verschiedenen sozialräumlichen Standorten sowie durch narrative Interviews mit den Teilnehmenden verfolgt. Vor dem Hintergrund, dass türkisch-muslimische Jugendliche und junge Erwachsene als bildungsbenachteiligte Klientel im öffentlichen Bildungssystem positioniert sind, stellt das sohbet ein sozial-religiöses Angebot dar, in dem die daran Teilnehmenden als erfolgreiche, am sozialen Aufstieg orientierte Bildungssubjekte adressiert werden und sich überwiegend als solche zu subjektivieren suchen. Das global aktive unternehmerische Bildungsnetzwerk der GB stellt für dieses Angebot die notwendigen finanziellen, organisatorischen, pädagogischen und sinnbezogenen Ressourcen bereit. Das sohbet wird dadurch in besonderer Weise zu einem verlässlichen und erwartungsvollen sozialen Raum für die jungen Muslime, der üblicherweise auch im Rahmen sog. herkunftsbezogener Bildungsangebote in der EW in Deutschland diskutiert werden könnte. Die Vielgestaltigkeit der Praxis des sohbet sowie der Biographien der daran Teilnehmenden haben aufgezeigt, dass die öffentlich breit diskutierte Frage, worum es sich bei der GB im eigentlichen Sinne handelt, einem individuellen Interpretationsprozess ausgesetzt ist. Das sohbet wird in flexibler Weise – als offener Raum jugendlicher Vergemeinschaftung (muhabbet), historisch tradierte religiöse Gesprächspraxis (sohbet) sowie durch erzieherische Praktiken gekennzeichnetes Lehr-Lern-Arrangement (ders) – praktisch ausgestaltet und biographisch angeeignet. Im Verlauf des Projektes rückte durch die variantenreichen Eigenlogiken des Feldes immer stärker in den Vordergrund des Forschungsprozesses, dass die gewonnenen Daten und ihre Interpretationen im Rahmen eines migrationsgesellschaftliches Positionierungsgeschehen zu fassen sind. Das Projekt konnte in dieser Hinsicht die anhaltende Relevanz reflexiver methodologischer Ansätze für eine erziehungswissenschaftliche Differenzforschung aufzeigen. Die im Projektantrag formulierte wechselseitige Bezugnahme von Praktiken und Biographien musste folglich um die diskurslogische Verfasstheit beider Datensätze und ihrer Interpretation erweitert werden. Mit Blick auf den Zusammenhang von Diskriminierung und Bildungsungleichheit zeigen die Ergebnisse des Projektes insbesondere auf Ebene der Interviews, dass migrations- und religionsbezogene Differenz- und Abwertungserfahrungen im Kontext von Schule und Unterricht in fast allen Biographien vorliegen. Deutlich unterscheidet sich aber die Weise, in der die Interviewten sich dazu in ihren Erzählungen sowie mit Blick auf ihren Lebenslauf und die von ihnen gesehene Relevanz der GB positionieren. Auf Ebene der Praktiken hat die soziale Form des sohbet sich als stärker ausdifferenziert herausgestellt, als dies zuvor angenommen werden konnte. Es ist somit eher von einer hochgradig situativ ausgestalteten, statt von einer historisch streng vorgezeichneten Form eines Bildungssettings zu sprechen. Das sohbet, das dennoch in der Tradition muslimischer Gesprächspraxis unter Gleichgesinnten steht, wird in die heutige Zeit übersetzt, da die religiösen Inhalte einer steten Aktualisierung bedürfen. Dies kennzeichnet das Setting des sohbet und seine Dynamik als diskursive Tradition, in der Glaubensinhalte auf die Lebenswelten der Teilnehmenden bezogen und von diesen angesichts individueller Sinnhorizonte angeeignet werden.
Publications
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(2016): Die sozial-religiösen Gesprächskreise der „Gülen-Bewegung“ – Eine praxeologische Skizze zur Institutionalisierung eines islamischen Bildungsverständnisses. In: Hummrich, Merle/Pfaff, Nicolle (Hg.): Kultur und Bildung – kritische Perspektiven auf erziehungswissenschaftliche Verhältnisbestimmungen. Wiesbaden: Springer VS, S.157-170
Geier, Thomas/Frank, Magnus/Büttner, Denise
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(2016): Sozialisationsprozesse in studentischen sohbetler der „Gülen-Bewegung“. Zur sozialen Hervorbringung eines muslimischen Bildungssubjektes. In: Hößl, Stefan/ Blaschke, Gerald: Islam und Sozialisation, Wiesbaden: Springer VS, S. 101-124
Geier, Thomas/Frank, Magnus
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(2016): „Bildung im hizmet" – Zu Bildungspraxen und Biographien junger Studierender im Kontext der Gülen-Bewegung. In: Geier, Thomas/ Zaborowski, Katrin U. (Hg.): Migration: Auflösungen und Grenzziehungen. Perspektiven einer erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S.211-236
Geier, Thomas/Frank, Magnus
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(2018): Die Bildungsinitiativen der Gülen-Bewegung in Deutschland – Sozialwissenschaftliche Perspektiven. In: Barz, Heiner/Spenlen, Klaus (Hg.): Islam und Bildung – Auf dem Weg zur Selbstverständlichkeit. Wiesbaden: Springer VS, S. 53-78
Geier, Thomas/Frank, Magnus
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(2018): Pedagogy of Hizmet in Germany – Non-formal Educational Practices and Biographical Views of its Participants. In: Ethnography and Education. 2019, 14, 4, 395–412
Geier, Thomas/Frank, Magnus/Bittner, Josepha/Keskinkılıç, Saadet
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(2020): Getting to Know Islam? – Diversitätskategorien in der Produktion ethnographischen Wissens. In: Leontiy, Halyna/Schulz, Miklas (Hg.): Ethnographie und Diversität. Wissensproduktion an den Grenzen und die Grenzen der Wissensproduktion. Wiesbaden: Springer VS, S. 287-308
Geier, Thomas/Frank, Magnus/Schalück, Laura/Schmidt, Dorothea
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(2021): Eingeladen zum sohbet. Eine differenzreflexive Ethnographie muslimischer Bildungspraxis. Wiesbaden: Springer VS
Frank, Magnus