Interpretations and Transformations of the Doctrine of Postulates in the Debate between Neo-Kantianism, Materialism, Spiritualism, and Parapsychology around 1900
Final Report Abstract
Gegenstand des Projektes war die Untersuchung des Umgangs mit der Postulatenlehre und der Lehre vom höchsten Gut in Kants Kritik der praktischen Vernunft bei zentralen Autoren im Spannungsfeld zwischen Neukantianismus, Okkultismus, Materialismus und (National-) Protestantismus um 1900. Dabei wurden mehrere Befunde erhoben: Der Beginn der Debatten um die Rolle von Kants Postulatenlehre und der Lehre vom höchsten Gut war hierbei keine Auseinandersetzung innerhalb des Neukantianismus, sondern wurde durch wirkungsvolle Publikationen des Materialisten Ernst Haeckel und des Okkultisten Carl du Prel vor dem Hintergrund antisozialistischer und antikatholischer Frontstellungen befeuert. Die Debatten um Kants Moralphilosophie um 1900 zitieren massiv den Streit um Kant und Swedenborg im 19. Jahrhundert, wodurch Kant v.a. als Autor konstruiert wurde, der teilweise mystische Thesen vertreten habe. Dabei sind es die Rezensionen spiritistischer Texte durch neukantianische Autoren, die diese Debatte im Diskurs um 1900 bekannt machen. Die Datierung von Kants Metaphysik-Vorlesung L1 durch neukantianische Autoren ist eine direkte Reaktion auf die Vereinnahmung der kantischen Morallehre durch spiritistische Autoren wie Carl du Prel. Die Datierung der L1 diente dazu, Kant vom Mystik-Vorwurf zu befreien. Die bis heute zitierte Deutung der Postulatenlehre und des höchsten Gutes als Fiktionen entsteht als direkte Antwort Hans Vaihingers auf metaphysische Kantdeutungen, die um 1900 populär wurden, denen Vaihinger wirkungsmächtig unterstellt, spiritistische Tendenzen in Kants Morallehre einzutragen. Der „Neukantianismus“, der heute als einheitliche Schulgemeinschaft definiert wird, entsteht Ende des 19. Jahrhunderts als wissenschaftspolitischer Kampfbegriff explizit gegen Spiritismus und Materialismus mit der Signatur einer Deutung der Postulate als Fiktionen. Alle Positionen, die die Postulate und das höchste Gut nicht als Fiktionen deuten, gelten fortan an materialistisch und/oder spiritistisch, d.h. „nichtneukantianisch“. Dass die Postulate als bloße Fiktionen gedeutet wurden, war die historische Voraussetzung für die Entstehung einer protestantisch-deutschnationalen Pflichtethik bei zentralen neukantianischen Autoren, die Kants Morallehre als Movens der Kriegführung im Ersten Weltkrieg setzten. Anstatt transzendente Gegenstände wie die Unsterblichkeit der Seele als höchstes Gut zu betrachten, wurde nun unter Berufung auf einen postulatenlosen Kant die Nation oder das Volk als höchstes Gut gesetzt, dem man sich zu opfern habe. Wenn in der heutigen Kantforschung über die Umdeutung, Verwerfung oder Fiktionalisierung der Postulate debattiert wird, wird eine antispiritistische und nationalprotestantische Frontstellung um 1900 im Diskurs reifiziert.
Publications
- Die Empirie des Übersinnlichen – C. G. Jungs Konzept des kollektiven Unbewussten als Umdeutung Kants zwischen Okkultismus, Religion und Parapsychologie, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 71 (2019), Heft 1, S. 41-62
Heidenreich, Hauke
(See online at https://doi.org/10.1163/15700739-07101004) - Eduard von Hartmann, die Postulatenlehre und die Genese des Neukantianismus im Kontext spiritistischer Debatten um 1900, in: Kant Yearbook 12 (2020), Heft 1, S. 57-79
Heidenreich, Hauke
(See online at https://doi.org/10.1515/kantyb-2020-0003) - „Bedenklich und anstößig“ – Hermann Cohens Interpretation der Postulatenlehre im Kontext von Spiritismus und Materialismus um 1900, in: Heinrich Assel/Hartwig Wiedebach (Hg.): Cohen im Kontext. Beiträge anlässlich seines hundertsten Todestages, Tübingen 2021, S. 155-176
Heidenreich, Hauke