Detailseite
Projekt Druckansicht

Vergleichende Replikationsstudie 'Die sanften Kontrolleure'

Fachliche Zuordnung Empirische Sozialforschung
Förderung Förderung von 2016 bis 2022
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 289782537
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In dem Projekt wurde die Originalstudie "Die sanften Kontrolleure. Wie Sozialarbeiter mit Devianten umgehen" repliziert und Fachkräfte Sozialer Arbeit in ihren Interaktionen mit Adressat*innen in vier Einrichtungen der Jugendgerichts- und Erziehungshilfe beobachtet. Zudem wurde dieser methodische Zugriff um problemzentrierte Interviews mit Sozialarbeiter*innen sowie um Dokumentenauswertungen erweitert. Mit einer vergleichenden Perspektive wurde im Kern den Fragen nachgegangen, wie Sozialarbeiter*innen in den genannten Institutionen soziale Kontrolle ausüben und, ob sie sich an Etikettierungsprozessen beteiligen. Mit der zugrundeliegenden symbolisch interaktionistischen Perspektive liegt Devianz nicht dinghaft vor, sondern ist erst das Produkt von bewertenden Zuschreibungen, bei denen involvierte Akteur*innen Fragen von Schuld und Verantwortlichkeit eruieren. Zudem interessierten Fragen nach der Orientierung an der employability der Adres-sat*innen sowie zum Helfer*innenselbstverständnis von Sozialarbeiter*innen. 45 Jahre nach der Originalstudie zeigt sich, dass die beobachteten Sozialarbeiter*innen nach wie vor kein originäres Schuldfeststellungsinteresse haben. Sie überlassen Etikettierungen anderen Instanzen sozialer Kontrolle, orientieren sich in ihrem Handeln aber immer noch weitergehend an den angenommenen Plausibilitätskriterien und Reaktionen von Richter*innen. Dies gilt auch für in den 1970er Jahren noch nicht existente Diversionsverfahren, für die u.a. Schuldeingeständnisse die Voraussetzungen sind. Im Unterschied zur Originalstudie zeigt sich jedoch keine weitreichende Parteinahme für die Adressat*innen, sondern eine verstärkte Orientierung am justiziellen Handlungsauftrag der Jugendgerichtshelfer*innen. Auch in der Erziehungshilfe leiteten Sozialarbeiter*innen keine Etikettierungen ein, wenn sie etwa Kenntnis von potenziellen sanktionsbewehrten Handlungen der Jugendlichen erlangten. Eine Kooperationsverweigerung mit anderen Instanzen sozialer Kontrolle lässt sich aber nicht erkennen. Kooperationen sind vielmehr institutionalisiert, beziehen sich allerdings überwiegend auf Institutionen, die auf Beschäftigungsfähigkeit zielen oder ebenfalls zum Hilfesystem gezählt werden. Soziale Kontrolle erfolgt in den Interaktionen jedoch nicht mehr so "sanft" wie zu Zeiten der Originalstudie. D.h. Sozialarbeiter*innen nutzen neben Strategien, in denen Kontrolle latent bleibt, auch Gesprächsstrategien bei denen sie ihre Adressat*innen provozieren, responsibilisieren oder beschämen und somit riskieren, ihre Beziehung zu den Adressat*innen zu gefährden. Ihr Selbstverständnis als Helfer*innen gefährdet dies jedoch nicht. Setzten Peters/Cremer-Schäfer dies voraus, wurde es in der Replikationsstudie v.a. über die Interviews extra erhoben. Dabei zeigten sich Ausdifferenzierungen im Selbstverständnis, die sich vor allem darin unterscheiden, wie sich die Sozialarbeiter*innen in dem doppelten Handlungsauftrag, Hilfe für die Jugendlichen und die Justiz zu leisten, verorten. Die herausgearbeiteten unterschiedlichen Typen eint jedoch ein objektivistisches Hilfeverständnis, selbst am besten zu wissen, was Adressat*innen hilft und so widerspricht dies auch nicht, sich teilweise für härtere Sanktionen auszusprechen, wenn diese gleichzeitig als Hilfe für die Jugendlichen gedeutet werden. Die unterschiedlichen Gesprächsstrategien zur Ausübung sozialer Kontrolle korrespondieren dabei jedoch nicht mit unterschiedlichen Typen von Hilfeverständnissen. Diese verlaufen vielmehr quer dazu und Sozialarbeiter*innen, die sich z.B. eher als Beziehungsarbeiter*innen sozialpädagogisch positionieren, verzichten nicht auf z.B. provozierende Gesprächsstrategien, und Fachkräfte, die sich eher als Berichterstatter*innen für die Justiz sehen, halten den Kontrollaspekt in Interaktionen ebenfalls oft latent, etwa wenn sie Dokumente in die Interaktion einbeziehen und sich so in ihrer Rolle von strafrechtlichen Vorwürfen an die Jugendlichen distanzieren können. Ausdifferenzierungen wurden auch bei den Bildern, die Sozialarbeiter*innen von ihren Adressat*innen haben, ersichtlich. Schließlich zeigten sich in den Interaktionsprotokollen nicht nur eine weiterhin hohe, wenn auch variierende Bedeutung von employability, sondern zudem auch Hinweise auf sozial selektive Effekte über gleiches und ungleiches Handeln von Jugendgerichtshelfer*innen gegenüber nach intersektionalen Differenzkategorien unterschiedlichen Jugendlichen. In der zentralen Projektpublikation "Sanfte Kontrolle? Devianz, Etikettierung und Soziale Arbeit: 1975 und 2020" wurde neben der Replikationsstudie (v.a. der Beitrag von Kühne/Schlepper) auch die Originalstudie (Peters/Cremer-Schäfer) erneut veröffentlicht und durch weitere projektspezifische Publikationen ergänzt.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2017): „Die sanften Kontrolleure“ (Helge Peters und Helga Cremer-Schäfer 1975) revisited, in: Soziale Passagen 2, 329-344
    Kühne, Sylvia/Schlepper, Christina/Wehrheim, Jan
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s12592-017-0271-4)
  • (2019): Soziale Arbeit und soziale Kontrolle. Editorial zum Schwerpunktheft, in: Kriminologisches Journal 51(1), 3-6
    Kühne, Sylvia/Schlepper, Christina/Wehrheim, Jan
    (Siehe online unter https://doi.org/10.3262/KJ1901003)
  • (2019): Wie Sozialarbeiter*innen Devianz zuschreiben. Eine diachrone Analyse von Praktiken des legal reasonings in der Jugendgerichtshilfe, in: Kriminologisches Journal 51(1), 30-51
    Kühne, Sylvia/Schlepper, Christina
    (Siehe online unter https://doi.org/10.3262/KJ1901030)
  • (2020): „Meine Aufgabe ist, einen Bericht zu schreiben“: „Die sanften Kontrolleure“ und ihre Dokumente, in: Soziale Probleme 30(2), 145-168
    Kühne, Sylvia/Schlepper, Christina
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s41059-019-00063-9)
  • (2021): 45 Jahre sanfte Kontrolleur:innen. Zur Einführung, in: Wehrheim, Jan (Hrsg.): Sanfte Kontrolle? Devianz, Etikettierung und Soziale Arbeit: 1975 und 2020, Weinheim, 7-17
    Wehrheim, Jan
  • (2021): Sanfte Kontrolle? Devianz, Etikettierung und Soziale Arbeit: 1975 und 2020, Weinheim
    Wehrheim, Jan (Hrsg.)
  • (2021): Überlegungen zur sozialen Selektivität in der Jugendgerichtshilfe, in: Wehrheim, Jan (Hrsg.): Sanfte Kontrolle? Devianz, Etikettierung und Soziale Arbeit: 1975 und 2020, Weinheim, 299-324
    Killian, Margarete/Wehrheim, Jan/Will, Clara
  • (2021): „Die sanften Kontrolleure“ revisited. Eine vergleichende Replikationsstudie, in: Wehrheim, Jan (Hrsg.): Sanfte Kontrolle? Devianz, Etikettierung und Soziale Arbeit: 1975 und 2020, Weinheim, 125-298
    Kühne, Sylvia/Schlepper, Christina
 
 

Zusatzinformationen

Textvergrößerung und Kontrastanpassung