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Narrative des Anthropozäns in Wissenschaft und Literatur. Themen, Strukturen und Poetik

Fachliche Zuordnung Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Förderung Förderung von 2016 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 318516285
 
Erstellungsjahr 2005

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Das Forschungsprojekt zielte darauf ab, das ‚Anthropozän‘ als interdisziplinäres Brückenkonzept, als Reflexionsbegriff und als ein auf die Wissenschaftsdebatte zurückwirkendes narratives Konstrukt zu untersuchen. Es verfolgte drei Ziele: 1. die Integration des Anthropozän-Konzepts in den Forschungsansatz des Ecocriticism; 2. die Erforschung nicht-anthropozentrischer Erzählweisen in Wissenschaft und Literatur; 3. der Entwurf einer Poetik des Anthropozän. Zunächst wurden fünf Narrative des Anthropozän in wissenschaftlichen und publizistischen Veröffentlichungen herausgearbeitet: das Katastrophen-, das Gerichts-, das Große Transformations-, das (bio-) technologische und das Interdependenz-Narrativ. Diese Narrative artikulieren divergierende politische, ökonomische, ethische und ökologische Interessen. Ihre Unterscheidung dient auch der kritischen Reflexion der Vormachtposition des Menschen und etablierter epistemologischer Kategorien (z.B. Subjekt-Objekt-Dualismus). Weitere Differenzierungen des vorwiegend westlichen Anthropozän-Konzepts wurden aus der Perspektive postkolonialer Studien und der Environmental Humanities vorgenommen. Die Publikation dieser Ergebnisse in der Kulturwissenschaftlichen Zeitschrift (2018), in APuZ (2018) sowie im online-Dossier „Anthropozän“ der Bundeszentrale für politische Bildung (https://www.bpb.de/gesellschaft/umwelt/anthropozaen/) erreichte breite Aufmerksamkeit. Ein weiteres Ergebnis des Projekts ist, dass der sich in der letzten Dekade zunehmend interdisziplinär etablierende Anthropozän-Diskurs verlangt, jede Auseinandersetzung mit dem neuen Erdzeitalter weder rein medienspezifisch noch mit einem rein disziplinspezifisches Theorie- und Reflexionswissen anzugehen. Der Routledge-Band Anthropocenic Turn (2020) liefert eine Bestandaufnahme der disziplinenübergreifenden Veränderungen, welche durch die Integration des Anthropozän-Konzepts in den jeweiligen disziplinären Forschungskontext herbeigeführt wird. In einem nächsten Schritt zeigte sich, dass die drei thematischen Teilbereiche des Anthropozän-Diskurses – die planetarische Perspektive, die großskalige Zeitdimension und die Natur-Kultur-Wechselbeziehungen – als Skalenprobleme zu verstehen sind, welche die Imagination herausfordern. Anthropozäne Phänomene wie etwa der Klimawandel entziehen sich in ihrer multiskalaren, räumlich und zeitlich disparaten Verteiltheit und Komplexität herkömmlichen Formen menschlicher Vorstellungskraft und machen es erforderlich, alternative Wege der Artikulation solch hochkomplexer Verschränkungen zwischen Mensch und Umwelt aufzufinden. Die internationale Konferenz am Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu „Narratives of Scale in the Anthropocene“ (09/2019) stellte die Frage nach der Erzählbarkeit bzw. Vermittelbarkeit solch komplexer skalarer Zusammenhänge durch unterschiedliche Formen der Erzählung; die Ergebnisse erscheinen 2021 in einem gleichnamigen Routledge-Band. Erst vor der Folie der theoretischen und interdisziplinär fundierten Erkenntnisse konnte die Ausgangsfrage des Projekts nach einer möglichen Poetik des Anthropozän in Angriff genommen werden. Für die literaturwissenschaftliche Analyse entwickelte das Projekt die Unterscheidung von ‚anthropozäner Literatur‘ und ‚anthropozänen Lektüren‘. In der ersten Perspektive lassen sich u.a. folgende Merkmale herausstellen: eine ‚Welterschütterung‘ und verunsicherte Beziehung zwischen Mensch und Natur/- Erdsystem; ein Verflechtungsnarrativ, das durch sprachliche Ambiguitäten und ambivalente Bedeutungsrelationen zum Ausdruck kommt; die Darstellung einer ‚derangement of scale‘ (Clark 2015) in zeitlicher und räumlicher Hinsicht; die Verwendung von strategischem Anthropozentrismus, Dezentralisierung des Menschen und Annahme einer agency der nicht-menschlichen Welt. In der zweiten Perspektive, einer ökologisch-erdhistorisch rekontextualisierenden anthropozänen Lektüre von literarischen Texten, wird das Anthropozän als geohistorischer Zusammenhang anerkannt, der nicht nur menschlich-soziale Interaktionen überschreitet und planetarische Materialströme einbezieht, sondern auch eine Selbstreflexion der Akteure auf ihre ökologische Verantwortung in Gang bringt.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2018): „Narrative des Anthropozän – Systematisierung eines interdisziplinären Diskurses“. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2.1 (2018), S. 1-20
    Dürbeck, Gabriele
    (Siehe online unter https://doi.org/10.2478/kwg-2018-0001)
  • (2019): „Narratives of the Anthropocene from the Perspective of Postcolonial Ecocriticism and Environmental Humanities“. In: Monika Albrecht (Hg.): Postcolonialism Cross-Examined. Multidirectional Perspectives on Imperial and Colonial Pasts and the Neocolonial Present. New York/London: Routledge, S. 271-288
    Dürbeck, Gabriele
  • Repräsentationsweisen des Anthropozän in Literatur und Medien / Representations of the Anthropocene in Literature and Media. Frankfurt a.M. u.a.: Peter Lang 2019 (Studien zu Literatur, Kultur und Umwelt, 5
    Dürbeck, Gabriele und Jonas Nesselhauf (Hg.)
  • (2020): The Anthropocenic Turn. The Interplay Between Disciplinary and Interdisciplinary Responses to a New Age. London/New York: Routledge
    Dürbeck, Gabriele/Hüpkes, Philip (Hg.)
    (Siehe online unter https://doi.org/10.4324/9781003037620)
  • (2020): „Der Anthropos als Skalenproblem“. In: Bajohr, Hannes (Hg.): Der Anthropos im Anthropozän: Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung. Berlin: de Gruyter, S. 115-130
    Philip Hüpkes
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783110668551-007)
  • “Extinction and Resurrection: The Anthropocene in Silke Scheuermann’s Poems ‘The Extinct’ and ‘Second Creation’”. In: Gegenwartsliteratur/A German Studies Yearbook (2020), S. 99-121
    Dürbeck, Gabriele
 
 

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