Opfersensibilität in komplexen sozialen Interaktionen: Eine interaktive Prozessperspektive
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Opfersensibilität – also die dispositionelle Neigung, auf Ungerechtigkeit zu eigenen Ungunsten emotional und kognitiv besonders sensibel zu reagieren – zieht in Situationen, in denen die Gefahr besteht, von anderen Menschen ausgebeutet und übervorteilt zu werden, Misstrauen und unkooperatives Verhalten nach sich. Bisherige Forschung hat sich bei der Erforschung der diesem Effekt zugrundeliegenden Prozesse meist auf einfache soziale Situationen (sog. „one-shot“-Interaktionen; vollständige Anonymität der Interaktionspartner etc.) konzentriert. Das durchgeführte Projekt erweitert diese Forschung nun um komplexere soziale Situationen (d.h. Gruppen mit 3 oder mehr Interaktionspartnern, die über einen längeren Zeitraum bzw. über mehrere Phasen eines Experiments hinweg miteinander interagieren können). Die Befunde zeigen, dass Gruppen, die aus mindestens einem opfersensiblen Mitglied bestehen, in Bezug auf unterschiedliche Gruppenmerkmale (Leistung, Kohäsion, Identifikation, Vertrauen und Kooperationsbereitschaft) schlechter abschneiden als Gruppen, in denen keines der Mitglieder eine erhöhte Opfersensibilität aufweist. Dies scheint unter anderem daran zu liegen, dass (a) Opfersensible anderen Menschen unterstellen, sich eher distanziert zu verhalten, und dass sie (b) in der Kommunikation mit anderen Menschen eher als unsympathisch empfunden werden, was den Aufbau gegenseitigen Vertrauens erschwert. Diese Befunde zeigen, dass ein Persönlichkeitsmerkmal wie Opfersensibilität die Dynamik in einer Gruppe sowie das Ergebnis einer Gruppenarbeit entscheidend beeinflussen kann, nicht nur in künstlichen Gruppen, sondern auch in interaktiven dyadischen Situationen und in „echten“, gewachsenen Gruppenkontexten. Für die Anwendungspraxis ergibt sich daraus unter anderem die Frage, welche Ressourcen eine Gruppe mobilisieren kann, um die ungünstigen Effekte der Opfersensibilität einzelner Gruppenmitglieder zu kontrollieren bzw. zu reduzieren. Unsere Forschung zeigt, dass sich hier eine hohe Gruppenidentifikation oder eine motivierende Aufgabe oder aber die Stärkung individueller Kontrollüberzeugungen bzw. das Abschwächen einer kollektiven Leistungsorientierung oder starker Interdependenzen zwischen den Gruppenmitgliedern als Möglichkeiten anbieten. Eine der zentralen Arbeitshypothesen – dass Opfersensibilität mit größerem Distanzverhalten gegenüber anderen Interaktionspartnern einhergehen sollte – konnte nicht bestätigt werden. Der dem Effekt von Opfersensibilität auf Gruppenleistung zugrundeliegende Mechanismus scheint vielmehr mit der Wahrnehmung des Distanzverhaltens anderer sowie mit der Kommunikation von Opfersensibilität in der Gruppe zusammenzuhängen. Auch der vermutete Effekt von Opfersensibilität auf die Qualität eines dyadischen Verhandlungsergebnisses konnte nicht gefunden werden, obwohl Opfersensibilität den Verhandlungsprozess durchaus verzögern kann. Diese Befunde werfen Fragen auf, die in Folgestudien untersucht werden sollten.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2021). Matters arising from Gabay, R., Hameiri, B., Rubel-Lifschitz, R., & Nadler, A. (2020): The tendency for interpersonal victimhood: The personality construct and its consequences. - Personality and Individual Differences, 165, 110134. Personality and Individual Differences, 168, 110294
Gollwitzer, M.
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(2021). Victim sensitivity in groups: When is one a detriment to all? Journal of Theoretical Social Psychology, 5, 3-13
Gollwitzer, M., Magraw-Mickelson, Z., Vollan, B., & Süssenbach, P.