Wer erhält gute Noten, wird angemessen beurteilt und wiederholt eine Klassenstufe? Zusammenhänge zwischen Lehrerentscheidungen und der Schülerpersönlichkeit
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Lehrkräfte bewerten alltäglich die Leistungen ihrer Schüler/innen. Insbesondere bei der Vergabe von Zeugnisnoten sind sie angehalten, ihre Noten auf fachliche Leistungen zu stützen. Tatsächlich erklären fachliche Leistungen, die anhand von standardisierten Leistungstests erfasst werden, 25% bis 35% der Varianz in den Schulnoten. Allerdings fließen neben den fachlichen Leistungen weitere Schülermerkmale in die Noten ein. Auch Persönlichkeitsmerkmale von Schüler/innen wurden wiederholt mit Noten in Zusammenhang gebracht. Inwiefern Persönlichkeitsmerkmale Schulleistungen vermittelt über fachspezifische Leistungen beeinflussen oder unabhängig von den Leistungen bei der Notenvergabe berücksichtigt werden, war jedoch unklar. Zudem war die Rolle von Persönlichkeitsmerkmalen für Versetzungsentscheidungen kaum erforscht. Ziel des vorliegenden Projekts war es daher, zu untersuchen, inwiefern sich Persönlichkeitsmerkmale von Schüler/innen über die fachlichen Leistungen hinaus auf Schulnoten auswirken. Zudem sollte geprüft werden, inwiefern Schüler/innen mit bestimmten Persönlichkeitsausprägungen angemessenere Schulnoten erhalten. Auch die Bedeutung, die den Persönlichkeitsmerkmalen für Versetzungsentscheidungen – über die Schulnoten hinaus – zukommt, sollte geprüft werden. Als Datengrundlagen dienten Fragebogen- und Testdaten von über 16.400 Neuntklässler/innen und 8.000 Siebtklässler/innen der National Educational Panel Study (NEPS), die mittels Mehrebenenanalysen ausgewertet wurden. Unsere Analysen ergaben, dass die Gewissenhaftigkeit von Schüler/innen ein stärkerer und – über die Fächer hinweg – konsistenterer Prädiktor für Schulnoten ist als andere Persönlichkeitsmerkmale. Obwohl der größte Anteil der Varianz in den Noten durch fachspezifische Leistungen aufgeklärt wurde, ließen sich die Zusammenhänge zwischen Noten und der Gewissenhaftigkeit der Schüler/innen nicht auf die Leistungen zurückführen. Diese Befunde legen nahe, dass Lehrkräfte bei der Notenvergabe ein gewissenhaftes Arbeitsverhalten ihrer Schüler/innen bestärken wollen oder sich dieses, in hohem Maße sozial erwünschte Arbeitsverhalten, im Sinne eines Halo-Effekts positiv auf die Notenvergabe von Lehrkräften niederschlägt. Darüber hinaus fanden wir Hinweise darauf, dass die Noten von Schüler/innen mit bestimmten Persönlichkeitsausprägungen enger mit den fachlichen Leistungen verknüpft sind. So war der Zusammenhang zwischen Mathematiknoten und -leistungen bzw. zwischen Gesamtnoten und -leistungen bei gewissenhafteren Schüler/innen stärker. Im Einklang mit dem Realistic Accuracy Model wäre denkbar, dass gewissenhaftere Schüler/innen von Lehrkräften angemessener beurteilt werden können, da durch die sorgfältige Arbeitsweise bspw. weniger Flüchtigkeitsfehler unterlaufen und zuverlässigere Informationen über die fachlichen Leistungen dieser Schüler/innen vorliegen. Alternativerklärungen, wie die höhere Aussagekraft von standardisierten Leistungstestwerten gewissenhafter Schüler/innen, sind jedoch ebenfalls denkbar und die gefundenen Effekte sollten in zukünftigen Studien überprüft werden. Auch für Versetzungsentscheidungen war die Gewissenhaftigkeit der Schüler/innen ein guter Prädiktor. Weniger gewissenhafte Schüler/innen hatten ein höheres Risiko, nicht in die nächste Klassenstufe versetzt zu werden, das einerseits durch die Schulnoten vermittelt wurde, aber bei Neuntklässler/innen auch dann bestand, wenn sie ähnliche Noten aufwiesen wie gewissenhaftere Schüler/innen. Eine Erklärung dafür könnte sein, dass Lehrkräfte eine größere Erfolgswahrscheinlichkeit in der höheren Klasse vermuten, wenn Schüler/innen gewissenhafter sind oder aber unerwünschtes Arbeitsverhalten sanktionieren und damit die Anstrengungsbereitschaft von Eltern und Schüler/innen verstärken wollen. Weiterhin fanden sich nur vereinzelt Hinweise für geschlechtsdifferentielle Effekte der Persönlichkeitsmerkmale auf Noten und Versetzungsentscheidungen. Die Effektstärken waren darüber hinaus klein. Zusammenfassend unterstreichen die Ergebnisse dieses Projekts, dass die Gewissenhaftigkeit der Schüler/innen wesentlich für schulischen Erfolg ist. Sie legen dabei nahe, das Lehrkräfte bei der Notenvergabe und bei Versetzungsentscheidungen ein gewissenhaftes Arbeitsverhalten ihrer Schüler/innen zusätzlich zu anderen Leistungsindikatoren, beabsichtigt oder unbeabsichtigt, mitberücksichtigen. Um eine größtmögliche Transparenz von Noten und Versetzungsentscheidungen zu erreichen, sollten Lehrkräfte darin bestärkt werden, bei Leistungsbeurteilungen zusammenzuarbeiten und ihre Entscheidungskriterien zu explizieren.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
- Do extraverts get the better grades? Students’ personality factors and teacher-assigned grades. 17. Conference European Association for Research on Learning and Instruction (EARLI), 29.08.-02.09.2017, Tampere, Finnland (BOA, pp. 308).
Westphal, A. & Vock, M.
- Are more conscientious seventh-and ninth-graders less likely to be retained? Effects of Big Five personality traits on grade retention in two different age cohorts. Journal of Applied Developmental Psychology, Vol. 66. 2020, 101088.
Westphal, A., Vock, M., Lazarides, R.
(Siehe online unter https://doi.org/10.1016/j.appdev.2019.101088) - Unravelling the relationship between teacher-assigned grades, student personality, and standardized test scores. Frontiers in Psychology, Vol. 12. 2021, 627440.
Westphal, A., Vock, M., Kretschmann, J.
(Siehe online unter https://doi.org/10.3389/fpsyg.2021.627440)