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Diagnostik von Rechenschwäche - Gängige Diagnosekriterien auf dem Prüfstand

Antragstellerin Dr. Katharina Lambert
Fachliche Zuordnung Bildungssysteme und Bildungsinstitutionen
Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie
Förderung Förderung von 2017 bis 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 336226422
 
Erstellungsjahr 2021

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Numerisch-mathematische Kompetenzen stellen zentrale Schlüsselqualifikationen unserer Wissensgesellschaft dar. Studien zeigen, dass Kinder, die bereits vor oder zu Beginn ihrer Schulzeit erhebliche Defizite aufweisen, diese häufig nicht überwinden können und dies sowohl im schulischen wie auch beruflichen Leben zu erheblichen Einschränkungen führt. Eine frühe und zuverlässige Identifikation von Kindern mit Rechenschwäche und deren gezielte Förderung ist also eine zentrale Herausforderung für Wissenschaft und Praxis. Allerdings besteht derzeit wenig Konsens im Hinblick darauf, nach welchen Kriterien die Diagnose Rechenschwäche gestellt werden sollte. In Forschung und Praxis werden häufig variierende Cut-off-Werte für die Mathematikleistung oder Diskrepanzen zwischen IQ und Mathematikleistung verwendet, um eine Lernstörung in Mathematik zu diagnostizieren. Welches Kriterium im jeweiligen Fall zugrunde gelegt wird, ist in aller Regel willkürlich. Systematische Studien an repräsentativen Studien, die die Kriterien vergleichend und im Hinblick auf die Stabilität der Diagnose untersucht haben, fehlen. Eine weitere Forschungslücke besteht darin, dass diese theoretisch basierten Kriterien bisher keiner empirischen Validierung, z.B. mittels des personenzentrierten Verfahrens der Latenten Profilanalyse (LPA) unterzogen wurden. Ebenfalls unklar ist die Frage, welchen Einfluss frühe Defizite auf die Leistung am Ende der Primarstufe und damit auf den Übergang in die weiterführende Schule haben. Um diese Forschungslücken zu schließen, haben wir in dieser Studie die Sensitivität, Vergleichbarkeit und Stabilität verschiedener Kriterien für die Diagnose von Rechenschwäche anhand eines niederländischen längsschnittlichen Datensatzes von mehr als 6.000 Kindern untersucht, die die Klassenstufen 2 bis 4 besuchen (Alter = 8,3-10,3 Jahre). Die Daten sind repräsentativ für die niederländische Provinz Limburg. Die Leistungen der Kinder wurden nach Cut-off- und Diskrepanzkriterien klassifiziert. Zusätzlich wurden latente Profilanalysen (LPA) durchgeführt, um ein Rechenschwäche-Profil in jeder Klasse zu identifizieren. Wir untersuchten die querschnittlichen Überschneidungen der kriterienbasierten Klassifikationen mit den LPA-Modellen sowie die Unterschiede in den Mathematikleistungen der 6. Klasse für jede dieser Gruppen von Kindern. Für jede Klassenstufe wurde ein spezifisches Rechenschwäche-Profil ermittelt. Diese zeigten erhebliche Überschneidungen mit dem Cut-Off-Kriterium der Mathematikleistung unter einem Prozentrang 11, aber nur minimale Überschneidungen mit einem der Diskrepanzkriterien. Darüber hinaus war der Cut-off < Prozentrang 11 auch das stabilste Kriterium: Die Mehrheit der Kinder, die dieses Kriterium während der Klassenstufen 2 bis 4 dreimal erfüllten, erzielten auch am Ende der Klassenstufe 6 eine Mathematikleistung unter dem 25. Perzentil. Allerdings zeigten nur 50% der Kinder, die durchgängig von der zweiten bis zur vierten Klasse die Diagnose Rechenschwäche auf Basis des Cut-Off-Kriteriums erreicht hätten, auch in der sechsten Klasse eine klinisch relevante Diagnose (d.h. Mathematikleistung < Prozentrang 11). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass diese Ergebnisse die Verwendung strenger Cut-Off- Kriterien und wiederholter Beurteilungen nahelegen. Die Ergebnisse legen ebenfalls nahe, dass zumindest ein Teil der teilweise sehr widersprüchlichen Studien auf die große Variation in der Anwendung unterschiedlicher Identifikationskriterien zurückzuführen sind. Die vorliegende Studie soll dazu beitragen, das Vorgehen zu vereinheitlichen. Dabei waren zwei Ergebnisse der vorliegenden Studie hatten wir in dieser Weise nicht erwartet. Zum einen hat die Anwendung der LPA, einem sehr komplexen analytisches Verfahren, keinen Erkenntnisgewinn im Vergleich zum Cut-Off-Kriterium ergeben. Erfreulich ist, dass ein so einfaches und ökonomisches Verfahren, wie die Verwendung von Grenzwerten, empirisch als relativ reliabel und valide, auf diese Weise nachgewiesen werden konnte. Trotzdem bleibt die Frage, inwieweit nicht der Mangel an einem Erkenntnis-Mehrwert der LPA darauf zurückzuführen ist, dass die Verwendung eines globalen Mathematikscores zu kurz greift. Diese Frage trifft auch auf den zweiten, teilweise überraschenden Befund zu, dass die frühe Diagnose wenig Stabilität besitzt. Zwar wurde dies schon zuvor gezeigt, allerdings an sehr kleinen Stichproben und nicht bis zum Übergang in die weiterführende Schule. Die vorliegende Studie unterstreicht, dass derzeit nicht beantwortet werden kann, welches Kind mit welchen spezifischen Schwierigkeiten in Mathematik das Defizit aufholt und welches dauerhaft Schwierigkeiten zeigt. Zukünftige Studien sollten klären, ob eine differenziertere Betrachtung unterschiedlicher mathematischer Kompetenzen hier einen Erkenntnisgewinn bringt und auch etwaige Fördermaßnahmen darauf angepasst werden sollten.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2017, Nov 29-Dec 1). Diskriminante Validität basisnumerischer Kompetenzen zur Vorhersage späterer mathematischer Fähigkeiten. IDeA Winter School: Bildungsforschung intermethodisch und interdisziplinär: Perspektiven für den wissenschaftlichen Nachwuchs, Rodgau, Germany
    Braeuning, D., Lambert, K., Hirsch, S., & Moeller, K.
  • (2018, September 12-14). Differential association of symbolic and non-symbolic numerical abilities in children with and without MLD – Evidence from large-scale assessment data. European Association for Research on Learning and Instruction, Special Interest Group (SIG) 15: Special Educational Needs Conference, Potsdam, Germany
    Braeuning, D., Hornung, C., Hoffmann, D., Lambert, K., Ugen, S., Fischbach, A., Schiltz, C., Huebner, N., Nagengast, B., & Moeller, K.
  • (2018, September 26-28). Differential association of symbolic and non-symbolic numerical abilities in children with and without MLD – Evidence from large-scale assessment data. Workshop on Integrating Educational and Cognitive Perspectives on Mathematics, Tübingen, Germany
    Braeuning, D., Hornung, C., Hoffmann, D., Lambert, K., Ugen, S., Fischbach, A., Schiltz, C., Huebner, N., Nagengast, B., & Moeller, K.
  • (2019, February 25-27). Diagnose von Rechenschwäche bei Grundschulkindern - Evaluation gängiger Kriterien und Vorgehensweisen. 7. Jahrestagung der Gesellschaft für empirische Bildungsforschung (GEBF), Köln, Germany
    Braeuning, D., Lambert, K., Hirsch, S., Schils, T., Borghans, L., Nagengast, B., & Moeller, K.
  • (2020, August 10-12). Evaluation of different criteria for diagnosing math learning disabilities. European Association for Research on Learning and Instruction, Special Interest Group (SIG) 15: Special Educational Needs Conference, London, UK
    Braeuning, D., Lambert, K., Hirsch, S., Schils, T., Borghans, L., Nagengast, B., & Moeller, K.
 
 

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