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Der Schreibtisch des Kaisers: Ort der Politik und Entscheidung in der Habsburgermonarchie? Franz Joseph I und dessen Kabinettskanzlei

Fachliche Zuordnung Neuere und Neueste Geschichte (einschl. Europäische Geschichte der Neuzeit und Außereuropäische Geschichte)
Förderung Förderung von 2017 bis 2022
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 360187517
 
Erstellungsjahr 2022

Zusammenfassung der Projektergebnisse

Unser Forschungsprojekt wollte die Politikgestaltung in der Habsburgermonarchie während der Herrschaft Franz Josephs aus einer neuen Perspektive beleuchten. Dabei haben wir uns auf die Praktiken der Entscheidungsfindung durch den Kaiser konzentriert. Als wesentliches Ergebnis unseres Projektes konnten wir das Verständnis von monarchischer Herrschaft im 19. Jahrhundert grundlegend revidieren. In bisherigen Darstellungen erscheint der Kaiser aktiv an den Regierungsgeschäften beteiligt, wobei er sich an die veränderte politische Situation nach dem Ende der neoabsolutistischen Herrschaft anpassen musste. Wenn wir uns auf seine Tätigkeit am Schreibtisch konzentrieren, haben wir es mit einem Kaiser zu tun, der sich mit 135.000 Einzelfällen konfrontiert sah, die mit Detailfragen des Managements von Organisationen zu tun hatten: mit der Verleihung von Titeln und Auszeichnungen, mit der Erhöhung von Renten im Gnadenwege, mit der Zulassung verheirateter Kandidaten zum Studium der Chirurgie, aber auch mit der Ernennung von Professoren und mit Entscheidungen über die Umwandlung von Todesurteilen in Haftstrafen. Der Kaiser vergeudete seine Zeit mit Belanglosigkeiten, weil er seine monarchischen Vorrechte nur ungern aufgab. Die wachsende Staatstätigkeit zwang ihn jedoch zur Beschränkung. Noch bevor Verfassungsänderungen die monarchische Herrschaft in der Habsburgermonarchie beeinflussten, hatte die rasch wachsende Zahl der Akten im Zuge der expandierenden Staatstätigkeit die Möglichkeiten der monarchischen Kontrolle oder der aktiven Teilnahme an der Regierungstätigkeit reduziert. Der Kaiser war aktiv an seinem Schreibtisch in die Regierungstätigkeit involviert und unterschrieb Hunderttausende von Akten. Er war aber letztlich die Unterschriftsmaschine, die er nicht sein wollte, wenn man einer Bemerkung in seinem Brief an Ministerpräsident Koerber glauben darf. Er winkte die meisten Entscheidungen durch, indem er Vorschläge von seinen Ministerien akzeptierte (76 %). Die zweithäufigste Entschließung (21,5 %) war die Kenntnisnahme einer Vorlage, d. h. die passive Unterstützung eines Vorschlags. Ein negatives Votum zu einem Entschließungsvorschlag oder eine eigenständige Entschließung war sehr selten und kam nur in 1,1 % aller Fälle vor. Dies gilt sogar für die Zeit der neoabsolutistischen Herrschaft, was uns zwingt, die Stellung des Kaisers im politischen System der Habsburgermonarchie zu überdenken. Der Kaiser hatte - über die Rolle einer bloß symbolischen Identifikationsfigur hinaus - zwei wichtige Funktionen. Er war erstens derjenige, der bei politisch konfliktträchtigen Entscheidungen mit Hilfe seines Mitarbeiterstabs rund um Kanzleidirektor Braun einen Kompromiss aushandeln konnte. Dies lässt sich aus der verlängerten Bearbeitungszeit in der Kabinettskanzlei bei kurzer Entscheidungszeit des Kaisers in Zeiten politischer Konflikte ableiten. Diese Konsensorientierung entspricht nicht den Vorstellungen des persönlichen Regiments des Kaisers, sie kommt aber in den Statistiken seiner Entscheidungstätigkeit deutlich zum Ausdruck. Im Verfassungsstaat war der Kaiser zweitens für die Durchsetzung der Gesetze zuständig. Zugleich war er der einzige Akteur in diesen Entscheidungsprozessen, der im Einzelfall die Anwendung des Gesetzes aussetzen und eine alternative Entscheidung treffen konnte - um den Gerechtigkeitsvorstellungen seiner Untertanen zu dienen.

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