Der Schreibtisch des Kaisers: Ort der Politik und Entscheidung in der Habsburgermonarchie? Franz Joseph I und dessen Kabinettskanzlei
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Unser Forschungsprojekt wollte die Politikgestaltung in der Habsburgermonarchie während der Herrschaft Franz Josephs aus einer neuen Perspektive beleuchten. Dabei haben wir uns auf die Praktiken der Entscheidungsfindung durch den Kaiser konzentriert. Als wesentliches Ergebnis unseres Projektes konnten wir das Verständnis von monarchischer Herrschaft im 19. Jahrhundert grundlegend revidieren. In bisherigen Darstellungen erscheint der Kaiser aktiv an den Regierungsgeschäften beteiligt, wobei er sich an die veränderte politische Situation nach dem Ende der neoabsolutistischen Herrschaft anpassen musste. Wenn wir uns auf seine Tätigkeit am Schreibtisch konzentrieren, haben wir es mit einem Kaiser zu tun, der sich mit 135.000 Einzelfällen konfrontiert sah, die mit Detailfragen des Managements von Organisationen zu tun hatten: mit der Verleihung von Titeln und Auszeichnungen, mit der Erhöhung von Renten im Gnadenwege, mit der Zulassung verheirateter Kandidaten zum Studium der Chirurgie, aber auch mit der Ernennung von Professoren und mit Entscheidungen über die Umwandlung von Todesurteilen in Haftstrafen. Der Kaiser vergeudete seine Zeit mit Belanglosigkeiten, weil er seine monarchischen Vorrechte nur ungern aufgab. Die wachsende Staatstätigkeit zwang ihn jedoch zur Beschränkung. Noch bevor Verfassungsänderungen die monarchische Herrschaft in der Habsburgermonarchie beeinflussten, hatte die rasch wachsende Zahl der Akten im Zuge der expandierenden Staatstätigkeit die Möglichkeiten der monarchischen Kontrolle oder der aktiven Teilnahme an der Regierungstätigkeit reduziert. Der Kaiser war aktiv an seinem Schreibtisch in die Regierungstätigkeit involviert und unterschrieb Hunderttausende von Akten. Er war aber letztlich die Unterschriftsmaschine, die er nicht sein wollte, wenn man einer Bemerkung in seinem Brief an Ministerpräsident Koerber glauben darf. Er winkte die meisten Entscheidungen durch, indem er Vorschläge von seinen Ministerien akzeptierte (76 %). Die zweithäufigste Entschließung (21,5 %) war die Kenntnisnahme einer Vorlage, d. h. die passive Unterstützung eines Vorschlags. Ein negatives Votum zu einem Entschließungsvorschlag oder eine eigenständige Entschließung war sehr selten und kam nur in 1,1 % aller Fälle vor. Dies gilt sogar für die Zeit der neoabsolutistischen Herrschaft, was uns zwingt, die Stellung des Kaisers im politischen System der Habsburgermonarchie zu überdenken. Der Kaiser hatte - über die Rolle einer bloß symbolischen Identifikationsfigur hinaus - zwei wichtige Funktionen. Er war erstens derjenige, der bei politisch konfliktträchtigen Entscheidungen mit Hilfe seines Mitarbeiterstabs rund um Kanzleidirektor Braun einen Kompromiss aushandeln konnte. Dies lässt sich aus der verlängerten Bearbeitungszeit in der Kabinettskanzlei bei kurzer Entscheidungszeit des Kaisers in Zeiten politischer Konflikte ableiten. Diese Konsensorientierung entspricht nicht den Vorstellungen des persönlichen Regiments des Kaisers, sie kommt aber in den Statistiken seiner Entscheidungstätigkeit deutlich zum Ausdruck. Im Verfassungsstaat war der Kaiser zweitens für die Durchsetzung der Gesetze zuständig. Zugleich war er der einzige Akteur in diesen Entscheidungsprozessen, der im Einzelfall die Anwendung des Gesetzes aussetzen und eine alternative Entscheidung treffen konnte - um den Gerechtigkeitsvorstellungen seiner Untertanen zu dienen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Stolpersteine auf dem Weg zum kooperativen Imperium: Bürokratische Praxis, gesellschaftliche Erwartungen und sozialpolitische Strategien. Kooperatives Imperium: politische Zusammenarbeit in der späten Habsburgermonarchie : Vorträge der gemeinsamen Tagung des Collegium Carolinum und des Masarykův ústav a Archiv AV ČR in Bad Wiessee vom 10.-13. November 2016 (pp. 23-53). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Becker P.
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Bittschriften und Petitionen im langen 19. Jahrhundert. Berlin: DigiOst.
Weck, Nadja
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Researching Crime and Criminals in the 19th Century. The Handbook of the History and Philosophy of Criminology (2017, 11, 10), 32-47. American Geophysical Union (AGU).
Becker, Peter
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Brockhausen unplugged. Reden und Schreiben über den Staat um 1900. Wandlungen und Brüche (2018, 11, 11), 211-220. American Geophysical Union (AGU).
Becker, Peter
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Bureaucracy and Emotions: Emotionen und Bürokratie (Administory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte, Band 3). Wien: Sciendo.
Becker P.
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Decency and Respect. New Perspectives on Emotional Bonds between State and Citizens. Administory, 3(1), 80-95.
Becker, Peter
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Der Staat – eine österreichische Geschichte?. Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 126(2), 317-340.
Becker, Peter
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Entstehung und Entwicklung der modernen Kriminalistik im 19./20. Jahrhundert. Die Zeit: Geschichte, (30. Jan. 2018), pp. 5
Becker P.
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Parlamentarismus und Parlamentarier in der Habsburgermonarchie. Ein neues Standardwerk und Forschungsinstrument. Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 126(1), 128-133.
Becker, Peter
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Pragmatisierung. 100 x Österreich: neue Essays aus Literatur und Wissenschaft (pp. 285-288). Wien: Kremayr & Scheriau
Becker P.
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The Practice of Control and the Illusion of Evidence. Migration Policies and Materialities of Identification in European Cities (2018, 10, 8), 217-242. American Geophysical Union (AGU).
Becker, Peter
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Österreich nach 1918: Aufbruch in eine neue, kleinteilige Welt. Ost-West: Europäische Perspektiven, 2018(1), pp. 8
Becker P.
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„Ostpreußen und seine Verkehrswege", Verlagsgruppe Bahn GmbH, Fürstenfeldbruck, 2018
Greß, Gerhard; Petzold, Jörg
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The Administrative Apparatus under Reconstruction. The Habsburg Civli Service and Beyond (2019, 4, 10), 233-258. American Geophysical Union (AGU).
Becker, Peter
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„Europa vertikal. Zur Ost-West-Gliederung im 19. Und 20. Jahrhundert", Göttingen: Wallstein 2016
Rita Aldenhoff-Hübinger; Catherine Gousseff; Thomas Serrier (Hrsg.)
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Carolinum 145). Göttingen.
Becker, Peter & Garstenauer, Therese
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Der Kaiser und seine Kanzlei. Überlegungen zum Herrschaftssystem der Habsburgermonarchie. Politik- und Kulturgeschichtliche Betrachtungen: Quellen - Ideen - Räume - Netzwerke (pp. 845-861). Hermagors: Mohorjeva Hermagoras
Becker P., Osterkamp J.
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Der moderne Staat & Staatsbildung: kulturwissenschaftliche Perspektiven. Beschreiben und Vermessen: Raumwissen in der östlichen Habsburgermonarchie im 18. und 19. Jahrhundert (Geschichtswissenschaft, Band 16) (pp. 31-58). Berlin: Frank & Timme
Becker P.
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Der Staat als umstrittene Organisation: Die Verwaltungsreform der Habsburgermonarchie in den 1910er Jahren. Im Kreuzfeuer der Kritik: Umstrittene Organisationen im 20. Jahrhundert (pp. 263-284). Frankfurt am Main: Campus
Becker P.
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Editorial. Administory, 5(1), 3-5.
Becker, Peter & Collin, Peter
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Eid und Loyalität in Zeiten politischer Transformation: Von der Habsburgermonarchie zur Ersten Republik. Le Serment / Der Eid: De l’âge du Prince à l’ère des nations / Vom Zeitalter der Fürsten bis zur Ära der Nationen Brüssel: Peter Lang
Becker P.
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Hofratsdämmerung? Verwaltung und ihr Personal in den Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie 1918 bis 1920 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Band 75). Wien: Böhlau
Peter Becker; Therese Garstenauer; Veronika Helfert; Karl Megner, Guenther Steiner; Thomas Stockinger
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Lviv’s Central Railway Station and its Fate after 1914. Wiener Galizien-Studien (2020, 1, 20), 29-50. American Geophysical Union (AGU).
Weck, Nadja
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Neue Perspektiven der historischen Politikfeldanalyse (Veröffentlichungen des Collegium
Becker, P. & Wheatley, N.
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Remaking Central Europe: The League of Nations and the former Habsburg lands (The history and theory of international law). Oxford: Oxford University Press
Peter Becker; Natasha Wheatley
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Remaking Mobility. Remaking Central Europe (2020, 12, 29), 193-212. American Geophysical Union (AGU).
Becker, Peter
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Zmĕna role úřednického aparátu v dobĕ přechodu od monarchie k republice. Demokratická monarchie, nedemokratická republika?: Kontinuity a zlomy mezi monarchií a republikou ve střední Evropĕ (pp. 27-43). Praha: Masarykův ústav a Archiv Akademie věd České republiky
Becker P.
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"Iron Landscapes. National Space and the Railways in Interwar Czechoslovakia”, berghahn books, New York, Oxford 2021
Jeschke, Felix
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Administrative Multinormativity: Normenkonflikte in verwaltungshistorischer Pespektive (Administory. Zeitschrift für Verwaltungsgeschichte, Band 5). Wien: Sciendo
Becker P, Collin P.
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Eisenbahn und Stadtentwicklung in Zentraleuropa am Beispiel der Stadt Lemberg (Lwów, L’viv) (Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas). Wiesbaden.
Weck, N.
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Umstrittene Formulare. Der Reisepass in der internationalen Debatte der 1920er Jahre. AdminiStudies. Formen und Medien der Verwaltung (2021), 103-123. American Geophysical Union (AGU).
Becker, Peter
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Zur Kartierung staatlicher Macht. Der Verwaltungsgerichtshof und seine Entscheidungen. Niederösterreich im 19. Jahrhundert, Band 1: Herrschaft und Wirtschaft. Eine Regionalgeschichte sozialer Macht (2021), 261-290. American Geophysical Union (AGU).
Becker, Peter
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"The rise and decline of communist Czechoslovakia’s Railway Sector”, Central European University Press, Budapest 2022
Nigrin, Tomáš
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Akteure und Netzwerke im Umfeld der k. u. k. Kabinettskanzlei. Im Büro des Herrschers: neue Perspektiven der historischen Politikfeldanalyse (pp. 35-50). Göttingen
Enderlin-Mahr A.
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Der Adel auf dem Schreibtisch des Kaisers. Methodenvielfalt in der Geschichtswissenschaft. Tagungsband zur 8. Internationalen Doktorandentagung des Doktoratskollegs für Mitteleuropäische Geschichte an der Andrássy Universität Budapest (pp. 41- 65). Wien
Dotter M.
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Die Entstehung des jüdischen Adels in der Habsburgermonarchie. Aschkenas, 17(2).
Županič, Jan
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Die Veränderung in der Rolle von Bürokratie im Übergang von der Monarchie zur Republik. Demokratische Monarchie, undemokratische Republik?: Kontinuitäten und Brüche zwischen Monarchie und Republik in Mitteleuropa (pp. 31-49). Wien: LIT Verlag
Becker P.
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Entscheiden wie ein Kaiser. Neue Perspektiven der historischen Politikfeldanalyse. Im Büro des Herrschers. Neue Perspektiven der historischen Politikfeldanalyse
Osterkamp J., Becker P.
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Gnade, Anspruch oder Kalkül? Die Habsburgische Nobilitierungspraxis als ein Politikfeld des Kaisers. Im Büro des Herrschers. Neue Perspektiven der historischen Politikfeldanalyse (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 145) (pp. 51-68). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht
Dotter M.
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Im Büro des Herrschers. Neue Perspektiven der historischen Politikfeldanalyse (Veröffentlichungen des Collegium
Carolinum 145). Göttingen.
Ableidinger C; Becker P; Dotter M; Osterkamp J & Weck N (Eds.)
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„Allerunterthänigst unterfertigte Bitte". Bittschriften und Petitionen im langen 19. Jahrhundert. Berlin: DigiOst.
Dotter M & Marlow U (Eds.)
