Sprechtempo und Reduktion im Deutschen (SpuRD)
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das SpuRD-Projekt ist die erste Überblicksdarstellung zur Regionalität von Sprechtempo und Aussprachereduktion im gesamtdeutschen Sprachraum. Die Ergebnisse bieten künftigen Untersuchungen von Lautwandel und sprechsprachlicher Reorganisation eine Grundlage, die der Phonetik, Dialektologie und Sprachwandelforschung bislang gefehlt hat. Die Datenbasis dazu entstammt dem Deutsch heute-Korpus des IdS: 327 Sprecher aus 165 Orten des deutschsprachigen Raumes haben die Fabel Nordwind und Sonne jeweils normal und schnell eingelesen. Die Aufnahmen wurden zuerst maschinell mit dem Online-Tool MAUS vorsegmentiert. Anschließend wurden Zeitmarken und Annotationen für ca. 350.000 Lautsegmente manuell überprüft und angepasst. Faktorenanalysen identifizieren Sprachräume mit ähnlichen Varianzen ihrer Segmentdauern und Verschleifungstendenzen und erlauben, diese exemplarisch zu kartieren. Der Vergleich dieser standardintendierten Leseaussprache mit basisdialektalen Sprachatlanten offenbart neue Verbindungen von dialektal-regionalsprachlichen und standardintendierten Registern auf einer segmentdauer- und prozessbasierten Ebene, die bislang nicht sichtbar gemacht werden konnten. In Karten wurde dokumentiert, wo wie schnell gelesen wird und wo welcher Verschleifungsgrad besteht. Zudem wurden Variablen extrahiert, die ursächlich für diese Variation sind: 1. regional variierende intrinsische Lautdauerverhältnisse (z. B. bei /z/, /i:/ etc.). 2. Variationslinguistisch deutbare regionale Umsetzungsunterschiede der Standardaussprache (Elision z. B. bei Schwa und Plosiven, Assimilation in Nebensilben) sowie regional unterschiedliche Beschleunigungsstrategien (Reduktion vs. Kompensation, sprachdynamisches Potenzial). Die Ergebnisse zeigen die sprachgeographische Variation des Artikulationstempos im Deutschen. Im Wesentlichen bildet sich für die Artikulationsdauer ein Nord-Süd-Gegensatz, mit niedrigeren Dauern im Norden und Westen, hohen Dauern im Süden sowie mittleren Dauern im Ostmitteldeutschen. Begründet werden diese Unterschiede über die alltagsprachliche Bedeutung der Standardaussprache in den betreffenden Regionen sowie über die phonetische Distanz der jeweiligen Regiolekte zur Standardaussprache. Auch das Ausmaß an Elisionen im Vergleich zur kodifizierten Standardaussprache variiert regional. Tendenziell korreliert die geringe Lesezeit im Norden mit der höheren Verschleifung, während die Sprecher im Süden mehr Zeit benötigen, da sie sich stärker an der kanonischen Grundlage orientieren und damit ‚buchstabentreuer‘ lesen. Die Sprecher im Nordwesten Deutschlands verhalten sich aufgrund der phonetischen Nähe zwischen ihrem Regiolekt und der Standardaussprache auch kolloquialer in der Lesesituation, d. h. sie reduzieren stärker, da sie stärker an diese Sprechlage gewöhnt sind. Im Detail sind aber viele weitere Aspekte bzw. regional differenzierte Elisionen und Assimilationen sowie unterschiedliche intrinsische Segementdauern bedeutsam, die komplex ineinandergreifen und die kleinräumigeren Unterschiede erklären. Die sorgfältig aufbereiteten Daten bergen ein enormes Ausnutzungspotenzial und werden weitere Beiträge ermöglichen. Die bisher entstandenen Karten zeichnen in Bezug auf Elisionsund Assimilationsprozesse schon jetzt ein realistischeres und schärfer aufgelöstes Bild für den regionalen Gebrauch der deutschen Standardaussprache.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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(2019): „Schwa unbreakable – Reduktion von Schwa im Gebrauchsstandard und die Sonderposition des ostoberdeutschen Sprachraums.“ In: Habermann, Mechthild, Sebastian Kürschner und Peter O. Müller (Hg.): Dialektale Daten: Erhebung – Aufbereitung – Auswertung. Hildesheim: Olms: 215–236 (= Germanistische Linguistik 241–243)
Hahn, Matthias und Beat Siebenhaar
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(2019): „Spatial Variation of Articulation Rate and Phonetic Reduction in Standard-intended German.“ In: Calhoun, Sasha, Paola Escudero, Marija Tabain und Paul Warren (Hg.): Proceedings of the 19th International Congress of Phonetic Sciences, Melbourne, Australia. Melbourne: 2695–2699
Hahn, Matthias und Beat Siebenhaar
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(2019): „Vowel Space, Speech Rate and Language Space.“ In: Calhoun, Sasha, Paola Escudero, Marija Tabain und Paul Warren (Hg.): Proceedings of the 19th International Congress of Phonetic Sciences, Melbourne, Australia. Melbourne: 879–883
Siebenhaar, Beat und Matthias Hahn
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(2020): „Zwischen Prozess und Produkt. Zur Lenisierung velarer Plosive im Deutschen.“ In: Hahn, Matthias, Andrea Kleene, Robert Langhanke und Anja Schaufuß. (Hg.) (2020): Dynamik in den deutschen Regionalsprachen: Gebrauch und Wahrnehmung. Olms (= Germanistische Linguistik, 250–251)
Hahn, Matthias
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Sprechgeschwindigkeit und Reduktion im deutschen Sprachraum. Eine Untersuchung zur diatopischen Variation standardintendierter Vorleseaussprache. Zugl. Leipzig, Univ., Dissertation, 2021. Hildesheim [u. a.]: Olms (Deutsche Dialektgeographie)
Hahn, Matthias