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Psychiatrische Krankheitskategorien als traveling objects: Die Morphologie von Krankheitskategorien in (sozial-)pädagogischen Zusammenhängen

Antragsteller Professor Dr. Heinz Bude
Fachliche Zuordnung Empirische Sozialforschung
Förderung Förderung von 2017 bis 2020
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 384705752
 
Das Projekt untersucht die Verfestigung und Objektivierung psychiatrischer Krankheitsbilder in sekundären Verwendungsdisziplinen. Damit möchte es der massiven Ausweitung (Jacobi 2009; Dellwing/Harbusch 2013) psychiatrischer Krankheitsdiagnosen (ADHS, Depression etc.), die in soziologischer Perspektive als Medikalisierung sozialer Irritationen auffallen, mit einer empirischen Studie begegnen, die den Weg von Krankheitskategorien, deren Produktion in akademischen Kontexten, ihre Anwendung in institutionellen Diagnose- und Beratungssituationen bis hin zu individuellen Thematisierungskonsequenzen der von diesen Kategorien Betroffenen nachvollzieht. Die seit den 70er Jahren im US-amerikanischen und im deutschen Diskurs stattfindende Auseinandersetzung mit der Psychiatrie, die mit der Neuauflage des Diagnosekataloges ICD ab 2015 erneut ansteht, hat es bisher verfehlt anzusprechen, dass die Reproduktion psychiatrischer Krankheitskategorien weniger im akademischen, durchaus reflexiven Diskurs der Psychiatrie, sondern durch die Verwendung in weiteren institutionellen und damit politisch interessierten sozialen Kontexten stattfindet. Institutionen der Erziehung und der sozialen Arbeit sind für die Verbreitung und Stärke des psychiatrischen Vokabulars heute wesentlich (Frances 2013), denn sie sind mit Formen institutionalisierter Kontrollmacht (Groenemeyer/Rosenbauer 2010: 61) ausgestattet, der weder in Experten- noch in Alltagsinteraktionen zu finden ist (Liebsch/Manz 2007). Ihnen kommt bei der Produktion sozialer Probleme als troubled persons industries (Gusfield 1989) eine wesentliche Bedeutung zu, indem sie aus abstrakten Kategorien konkrete Betroffenheit (Groenemeyer 2010: 15) und aus akademischen Formeln Narrative machen. Das Projekt thematisiert psychiatrische Klassifikationskategorien als traveling objects (Czarniawska 1997), die zwischen den Akteuren erschlossen und weitergereicht werden, sich auf ihrer Reise durch strategische Kontexte strukturell ändern und sich im Sinne ihrer Konsequenzen für Individuen verselbstständigen. Die Ergebnisse einer so empirisch erweiterten Verwendungsforschung erlauben einen neuen Zugriff auf die Soziologie der Psychiatrie ebenso wie auf psychiatrische Krankheitsbilder und soziale Institutionen. Zum einen greift das Projekt die derzeit weit entwickelte amerikanische psychiatriekritische Diskussion für die deutsche Soziologie auf. Zum anderen möchte es die Tradition der Verwendungsforschung (Beck/Bonß 1985) zu einer neuen und erweiterten Anwendung bringen. Dem Projekt geht es um die Rekonstruktion einer reflexiven Falle der Selbstaufklärung; eine Untersuchung, die nicht allein den Bogen von akademisch entwickelten zu institutionell verwendetem, sondern ergänzend auch hin zu institutionell und individuell geglaubtem Wissen schlägt, und die an den psychiatriekritischen Diskurs rückgekoppelt werden und diesen erweitern soll, ohne eine moralisch höchst aufgeladene Debatte weiter zu moralisieren.
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
 
 

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