Im Alphabet der Fakten und Fiktionen. Das Lexikon als Literatur
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Nachschlagewerke wie Lexika, Wörterbücher und Enzyklopädien sind seit der Frühen Neuzeit alphabetisch organisiert. Gegenläufig zu den auf der Hand liegenden normativen Tendenzen des Formats ist es wissenstheoretisch auch als ein offener, antisystematischer Denkraum bestimmt worden. Satirische Wörterbücher und literarische Lexikon-Romane zeugen zudem aber auch davon, dass das Lexikon-Format nicht nur das Denken befreien, sondern ästhetisch produktiv werden kann. In auffälliger Weise ist die arbiträre ABC-Ordnung nämlich seit der Aufklärung funktionalisiert worden für Kritik, Polemik – und für avantgardistische Artefakte (im 20. Jahrhundert etwa prominent von Ror Wolf alias Raoul Tranchirer in den acht Bänden seiner Enzyklopädie für unerschrockene Leser, 1983–2014). Das Projekt wollte derartige literarische Lexikographien vor dem Hintergrund der Geschichte des Lexikons systematisch erschließen. Durch die 2019 erschienene Monographie Enzyklopädische Fantasien von Monika Schmitz-Emans ergab sich die Notwendigkeit einer Umakzentuierung. Flankierend zu der umfangreichen Materialpräsentation von Schmitz-Emans schienen nun vor allem exemplarische Studien zu den genauen lexikographischen Darstellungstechniken wichtig. In diesem Sinne wurde insbesondere zu zwei Bereichen gearbeitet: In einer ersten Studie habe ich an Einträgen aus Ror Wolfs alphabetisch lemmatisiertem Buch Raoul Tranchirers Bemerkungen über die Stille (2005) herausgearbeitet, wie dort die musikalisch-performative Sprache selbst – gelegentlich geradezu konträr zum vermeintlichen Inhalt – zur wichtigsten Ebene von Literatur wird. Für eine derart an Klang und Rhythmus interessierte Wortkunst eignet sich das arbiträre Ordnungsformat des Lexikons offenbar deshalb besonders gut, weil es sich als konstruktivistischer Rahmen begreifen lässt. Zweitens habe ich die Darstellungsverfahren in faktualen Lexika erforscht. Ein besonderes Augenmerk galt dabei narrativen Passagen, die den in Lexika zu erwartenden deskriptiven Duktus verlassen. Pierre Bayles programmatisch ,unordentliches‘ (vgl. Neumeister 1995) Dictionnaire historique et critique (1695/1697) habe ich in exemplarischen Lektüren gerade in der Fortschreibung durch seinen Übersetzer Johann Christoph Gottsched (1741–1744) als ein Unternehmen gelesen, das einerseits einen offenen Denk- und Kommunikationsraum eröffnet, andererseits aber auch erzählen und unterhalten will (vgl. Bayles Vorrede) – ein Konzept, das Gottsched nicht nur annimmt, sondern aktiv weitertreibt, wie ich in exemplarischen Analysen verfolgt habe.
