Detailseite
Projekt Druckansicht

Aneignungskonflikte in mischungsorientierten Stadtentwicklungsprozessen

Fachliche Zuordnung Empirische Sozialforschung
Förderung Förderung von 2018 bis 2022
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 389360901
 
Erstellungsjahr 2022

Zusammenfassung der Projektergebnisse

In dem Projekt wurde in zwei Stadtteilen mit hohem und geringerem ökonomischen Verdrängungsdruck, in denen im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Programm "Soziale Stadt" jeweils Politiken sozialer Mischung zur Anwendung kamen - Essen/Altendorf und Hamburg/Altona-Altstadt - vergleichend untersucht, wie und aus welchen Perspektiven Bewohner:innen Konflikte um die Aneignung stadtteilbezogener Ressourcen zur Reproduktion des alltäglichen Lebens (u.a. Wohnen, öffentlich zugängliche Räume) führen sowie welche Akteur:innenbeziehungen und Konfliktverläufe dabei sichtbar werden. Dabei wurden insbesondere die Deutungen von Aufwertungs- und potenziellen Verdrängungsprozessen sowie Handlungsmöglichkeiten unterschiedlich sozial positionierter Bewohner:innen untersucht. Methodisch wurde mit einem mixed methods-Ansatz gearbeitet (Expert:inneninterviews, fokussierte Ethnographie, Medien- und Dokumentenauswertungen und v.a. fokussierte teilstrukturierte sowie narrativ-episodale Interviews). Das Projekt folgte methodologischen Ansätzen des interpretativen Paradigmas. Auf Basis von unterschiedlichen Narrationstypen - allgemeine Problemerzählungen zum Stadtteil sowie als schwierig beschriebene Situationen mit und ohne interaktive Aushandlungen, in die die Interviewten involviert waren - zeigten sich zunächst auch quantifizierbare Auffälligkeiten: Bei entsprechenden Situationen dominierte in Altendorf der Aushandlungsgegenstand "öffentlicher Raum", in Altona-Altstadt waren daneben die Ressourcenbereiche "Wohnraum" und Nachbarschaft in etwa gleich häufig vertreten. In der herausgearbeiteten Typologie schwieriger Situationen zeigte sich, dass auch in dem medial und stadtpolitisch stark problematisierten Stadtteil Altendorf Bewohner:innen ihre Alltage weitgehend konfliktarm erleben. In den allgemeinen Problemerzählungen spiegeln sich jedoch die medialen und politischen Verfallserzählungen mit ihrer hohen Relevanz für "territoriale Stigmatisierung". Diese beeinflusst nicht nur Situationsbedeutungen und die Beziehungen unterschiedlich positionierter Stadtteilbewohner:innen zueinander, sondern auch die Mobilisierbarkeit institutioneller Akteur:innen im Stadtteil für eigene Interessen. Das "territoriale Stigma" und der Umgang damit erweist sich jedoch zusätzlich als sozial selektiv und wird gerade von denjenigen, die besonders von kulturalisierenden/rassifizierenden Zuschreibungen oder auch von selektivem Policing betroffen sind, teilweise offensiv zurückgewiesen. Für Altona-Altstadt erweist sich hingegen die Erzählung, Gentrifizierung/Mieterhöhungen seien ein Problem für alle, als nahezu ubiquitär. Im Kontext zweier sozioökonomisch/-kulturell ähnlich heterogener Stadtteile wird soziale Mischung damit sehr unterschiedlich konnotiert und (nicht) problematisiert: als Problem (Altendorf) und als erhaltenswert (Altona-Altstadt). Schwierigkeiten bei der Aneignung von Ressourcen zur Reproduktion unterscheiden sich zwischen den Stadtteilen für sozial unterschiedlich positionierte Bewohner:innen jedoch nicht kategorial, sondern graduell: bezüglich der Wahrscheinlichkeit, mit welchen Schwierigkeiten es Bewohner:innen überhaupt zu tun bekommen, und dahingehend, welche Selbst- und Fremdzuschreibungen situativ produktiv werden und ggf. interaktive Aushandlungen beeinflussen. Letzteres wie auch vielfältige Varianten von Entproblematisierungen verweisen darauf, wie voraussetzungsvoll Konflikte sind: Zunächst muss eine Situation etwa der Mieterhöhung überhaupt als Problem gedeutet werden und nicht etwa als "normal", "legal" oder "legitim", und anschließend normativ als nicht akzeptabel. Hierbei wie auch in Bezug auf die Einschätzung des Gegenübers fließen Wissensbestände u.a. über Wohnungsmärkte und Typen von Vermieter:innen ein. Ein Konflikt im Sinne einer wechselseitig konfrontativen Aushandlung einer Uneinigkeit setzt zudem in einer strategischen Handlungsdimension voraus, sich selbst in Bezug auf solche Wissensbestände Anrechte und Agency zuzuschreiben. "Moralische Ökonomien" des Vermietens und Einschätzungen von Kräfteverhältnissen kommen zum Tragen, was auch dazu führen kann, dass das potenzielle Gegenüber gewechselt und ein Konflikt ggf. nicht mit Immobilieneigentümer:innen, sondern z.B. mit dem JobCenter geführt wird. Dabei zeigt die Untersuchung, wie Gentrifizierung als Verdrängung aus der Wohnung und dem Stadtteil und als "Makrophänomen" interaktiv hervorgebracht (oder verhindert) wird. Die Relevanz entsprechender normativer und strategischer Zuschreibungen und Abwägungen zeigt sich auch in Aushandlungen schwierigen Situationen mit Nachbar:innen etwa um Lautstärkegrenzen und Hausordnungen, wobei hier geschlossene Wohnungsmärkte und entsprechend fehlende Exit-Optionen (Auszug) Aushandlungsdynamiken ebenso beeinflussen wie (kulturalisierende/ethnisierende) Problematisierungsdiskurse und homogenisierende Gruppenkonstruktionen - sowohl in Richtung Eskalation als auch in Richtung Konfliktvermeidung. Asymmetrische Aneignungsordnungen und Ressourcenzugänge werden so gerade durch alltägliche Aushandlungen hindurch hervorgebracht, wobei sich Korrespondenzen zu jeweils unterschiedlichen "Kontextbedingungen" eines gentrifizierenden und eines stagnierenden "Entwicklungsgebietes" zeigen.

Projektbezogene Publikationen (Auswahl)

  • (2018): Urbanität durch soziale Mischung? In: Gestring, Norbert; Wehrheim, Jan (Hrsg.): Urbanität im 21. Jahrhundert. Frankfurt a.M./New York: Campus, 215-233
    Rinn, Moritz/Wehrheim, Jan
  • (2020): Kein Einzelfall. Über den Tod von Adel B., der während eines Polizeieinsatzes in Essen-Altendorf erschossen wurde. In: sub\urban. zeitschrift für kritische stadtforschung, 8 (1/2), 263-276
    Rinn, Moritz/Wehrheim, Jan/Wiese, Lena
    (Siehe online unter https://doi.org/10.36900/suburban.v8i1/2.556)
  • (2020): Politiken sozialer Mischung und die Produktivität von Rassismus im „gefährlichen Viertel“. In: Geographica Helvetica, 75 (1), 23-36
    Rinn, Moritz/Wiese, Lena
    (Siehe online unter https://doi.org/10.5194/gh-75-23-2020)
  • (2021): (Nicht-)Konflikte um Verdrängung von unten verstehen. In: Glatter, Jan; Mießner, Michael (Hrsg.): Gentrifizierung und Verdrängung. Aktuelle theoretische, methodische und politische Herausforderungen. Bielefeld: transcript Verlag, 295-311
    Rinn, Moritz
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1515/9783839455821-015)
  • (2021): Die polizeilich-publizistische Konstruktion von „Problemvierteln“ – und konkurrierende Deutungen. In: Blättel-Mink, Birgit (Hrsg.): Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020
    Rinn, Moritz/Wehrheim, Jan
  • (2021): Die Produktion eines „Problemviertels“. Mediale Diskurse, politischpolizeiliche Interventionen und interaktive Situationsbedeutungen. In: Berliner Journal für Soziologie, 31, 249–278
    Rinn, Moritz/Wehrheim, Jan
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1007/s11609-021-00444-8)
  • (2021): Konflikte um Wohnen in Gentrifizierungsgebieten. Ein interaktionistischer Zugang. In: Blättel-Mink, Birgit (Hrsg.): Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020
    Rinn, Moritz/Wehrheim, Jan/Wiese, Lena
  • (2022): How tenants' reactions to rent increases affect displacement: An interactionist approach to gentrification. In: Urban Studies
    Rinn, Moritz/Wehrheim, Jan/Wiese, Lena
    (Siehe online unter https://doi.org/10.1177/00420980221078212)
 
 

Zusatzinformationen

Textvergrößerung und Kontrastanpassung