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Epistemologische Moderne: zur Empirisierung von Natur und Kultur um 1830
Antragstellerin
Privatdozentin Dr. Martina King
Fachliche Zuordnung
Germanistische Literatur- und Kulturwissenschaften (Neuere deutsche Literatur)
Förderung
Förderung von 2018 bis 2022
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 392024438
Das Projekt erforscht den fundamentalen Wandel im kulturellen Wissenssystem zwischen 1820 und 1850 und profiliert diese unterschätzte Epoche auf gänzlich neuartige Weise: Sie soll als epistemologische Moderne mit prägender Bedeutung für den technisch-kulturellen Modernisierungsprozess um 1900 in den Blick kommen. Ausgangspunkt ist eine - noch um 1800 undenkbare - Wirklichkeitsöffnung im gesamten intellektuellen Raum, die sich mit dem Begriffspaar Erfahrungsdruck und Empirisierungszwang (Lepenies) fassen lässt. Es soll gezeigt werden, dass der neue Erfahrungsreichtum mit der Entwicklung der modernen Lebenswissenschaften zusammenhängt, insbesondere mit vergleichender Anatomie und aktualistischer Geologie. Er hinterlässt aber weit darüber hinaus in naturkundlichen und literarischen Texten seine Spuren, so dass von einer wechselseitigen Biologisierung der Literatur und Literarisierung des Biologischen auszugehen ist. Diese ist erstens in einer paradigmatischen Gattung aufzuweisen, an der Naturforschung und Literatur gleichermaßen Anteil haben: im Reisebericht. Untersucht werden ebenso bekannte wie vergessene Reisetexte des Vormärz und des biogeographischen Diskurses, u.a. von Heinrich Heine, Ludolf Wienbarg, Theodor Mundt, Adelbert von Chamisso, Richard Schomburgk und Eduard Poeppig. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie heterogene, materiale und abstrakte Gegenstände - Fischflossen, Klassikerzitate und Regierungsformen - als statusgleiche Elemente einer bunten, phänomenalen Gesamtheit verzeichnen. Zweitens soll nach Parallelen auf medialer Ebene gefragt werden; und zwar anhand der enzyklopädischen Zeitschrift Isis (1816-1848) des Naturphilosophen Lorenz Oken, die erst ansatzweise erforscht ist. Mit dem paradoxen Anspruch, das Ganze des Wissens zu vereinen und doch die gelehrte Einheit zugunsten neuer Spezialisierungen aufzugeben, präsentiert auch sie ein Kaleidoskop des Heterogenen - vom zoologischen Fachartikel bis zur Naturlyrik. Schritt für Schritt wird das Projekt spezifische Darstellungspraktiken rekonstruieren, die Wahrnehmungsfülle, Beschleunigung, Ordnungsverlust in Textualität übersetzen und dabei das Chaos des Wirklichen unmittelbar evident werden lassen. Sei es die Reihung heterogener Gegenstände oder Texttypen, der ständige Wechsel zwischen Narration, Deskription und Erklärung in der Reiseliteratur, die Verbindung sprachlicher, ikonischer und numerischer Zeichensysteme oder der kalkulierte Gattungsbruch: All diese hybriden Formate weisen darauf hin, dass man einer übervollen Realität und dem dort verborgenen Wissen nur mehr im Medium von Montage gerecht werden kann. Eine solch artistische Wirklichkeitsabbildung mit der Materialität von Zeichen dezentriert das auktoriale Subjekt, das als Kreator und Kopist gleichermaßen erscheint. Insgesamt zielt das Projekt darauf, in solch dissoziativen Repräsentationsformen und der daran geknüpften Ambivalenz des Subjekts das eigentlich Moderne der epistemologischen Moderne freizulegen.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen
Internationaler Bezug
Schweiz