Überwachung. Macht. Ordnung: Personen- und Vorgangskarteien als Herrschaftsinstrument der Gestapo
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Das Forschungsprojekt hat das von Mallmann und Paul festgestellte Desiderat einer empirisch auf die repressiven Praktiken des Gestapoapparates schauenden Studie durch Anwendung innovativer digitaler Verfahren bearbeitet. Die in der Geschichtswissenschaft inzwischen etablierten praxeologischen Zugänge boten dabei zugleich Ansatzpunkte für eine systematische Analyse der Funktionsweise von Karteisystemen als Kernstück des Überwachungs- und Repressionsapparates der Gestapo. Umgesetzt wurde dieses Forschungsdesign auf der Basis einer massendatenbasierten Modellierung der Genese und des Betriebs einer Großkartei aus dem Überwachungsapparat des „Dritten Reiches“. Zugleich war damit ein Einblick in eine analoge informationstechnische Innovation bzw. Revolution möglich, die sich in Deutschland in der Zwischenkriegszeit entfaltete: die Einführung und der Betrieb von Großkarteien in der administrativen Praxis. Kern des Projekts war eine historiografische Operationalisierung des gesamten Datenbestandes der so genannten Osnabrücker Gestapo-Kartei durch eine KI-gestützte Datenextraktion und den Bau eines digitalen Modells der Kartei auf der Ebene einzelner Auftragungen. Das Projekt wurde in Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Landesarchiv, Standort Osnabrück, sowie den Gedenkstätten Augustaschacht und Gestapokeller in Osnabrück durchgeführt. In der Forschung konnte das Projekt nicht nur unmittelbar an Arbeiten zum Überwachungsapparat des NS-Regimes anschließen. Auch in weiterer Perspektive hat es sich als fruchtbar erwiesen, Bürokratien bzw. Administrationen und ihre Machttechniken als maßgebliche Akteure des Holocaust zu erforschen. Schon Baumann hat den Holocaust „als charakteristisch modernes Phänomen“ bezeichnet, bei dem die Paarung von Technologie und Effizienzdenken die Handlungsoptionen von Akteuren stark beeinflusst haben. Im Projektverlauf hat sich die Integration von Ansätzen einer postkolonial und machtkritisch informierten Wissensgeschichte als ausschlaggebend für die Entwicklung einer analytischen Perspektive erwiesen. Diese hat es erlaubt, auf die Produktion, Zirkulation und Nutzung von geheimpolizeilichen Wissensbeständen scharf zu stellen. Des Weiteren konnten im Sinne eines Pilotprojekts Verfahren erprobt werden, hier noch mit externen Dienstleistern, eine KI-gestützte vollständige Datenextraktion aus strukturierten Massendaten umzusetzen. Dabei wurden die Zeit- und Kostenvorteile, Arbeitsabläufe sowie Qualitätsmerkmale erkundet, wichtige Erfahrungen zu Datenqualität und Aufbereitung solcher Datenbestände für die Analyse sowie die archivische Tiefenerschließung gesammelt und schließlich Erkenntnisse für die wissenschaftsförmige Weiterentwicklung solcher Verfahren gewonnen.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Analysis of Historical Data. Approaching Card-Files as Serial Sources, Vortrag im Rahmen des Workshops Kulturtechnik? Migrationsgesellschaften und die Produktion von In- und Exklusion in personenbezogenen Massendaten am Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS) der Universität Osnabrück, 9. November 2018.
Sebastian Bondzio
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Data-Driven-History. Methodische Überlegungen zur Osnabrücker Gestapo-Kartei als Quelle zur Erforschung datenbasierter Herrschaft, in: Archiv- Nachrichten Niedersachen 22 (2018), S. 124-138.
Sebastian Bondzio & Christoph Rass
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Allmächtig, allwissend und allgegenwärtig? Die Gestapo- Kartei als Massendatenspeicher und Weltmodell, in: Osnabrücker Mitteilungen 124 (2019), S. 223-260.
Sebastian Bondzio & Christoph Rass
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Allwissend und Allgegenwärtig. Die Gestapo mithilfe von Digital History neu erforschen, Vortrag im Rahmen der Tagung Zeugnisse des Nationalsozialismus, digital - Projekte, Methoden, Theorien an der Jacobs Universität Bremen, 13. Dezember 2019.
Sebastian Bondzio
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Big Data and Historical Research. How to Utilize Personal Data in GIS, Vortrag im Rahmen der Konferenz Displacement and Resettlement During and After the Second World War in a Global Perspective – a Digital Humanities/Social GIS Approach am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, 5.-6. Juli 2019.
Sebastian Bondzio
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Geografische Informationssysteme in der Geschichtswissenschaft. Ein Weg der analytischen Nutzung, Vortrag im Rahmen des 65. Bundesweiten Gedenkstättenseminars in den Arolsen Archives - International Center for Nazi-Persecution, 27.-29. Juni 2019.
Sebastian Bondzio
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Vom Archiv zur Auswertung. Serielle Quellen in der Digital History, Vortrag im Rahmen der Tagung Offene Archive - Konferenz mit Archivcamp beim BStU in Berlin, 4.-5. November 2019. Sebastian Bondzio, Teilnahme am 1. Historiker-Symposium zur Zukunft des Dokumentenerbes der Entschädigungs- und Wiedergutmachungsakten von Bund und Ländern im Rahmen der "Transformation der Wiedergutmachung" im Bundesministerium für Finanzen, 28. Oktober 2019.
Sebastian Bondzio
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Data Driven History. Knowledge Discovery in den Qualifikationsarbeiten der Juristischen Hochschule der Staatssicherheit, Vortrag im Rahmen des Workshops zur Online- Stellung der Arbeiten der Juristischen Hochschule der Staatssicherheit beim Bundesbeauftragen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) in Berlin, 15. September 2020.
Sebastian Bondzio
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Next Stop Big Data? Erfahrungen mit der Digitalisierung von Geschichte und Geschichtswissenschaft, in: Paul Thomes/ Tobias Dewes: Vergangenheit analysieren - Zukunft gestalten (Aachener Studien zur Wirtschafts-, Sozial-, und Technologiegeschichte, Bd. 20), Düren 2020, S. 13-50.
Sebastian Bondzio & Christoph Rass
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Data Driven History. Exploratory Approaches to Structured ‘Historical Big Data’, Vortrag im Rahmen des Arbeitskreises Digital Humanities der Max Weber Stiftung, 24. Juni 2021.
Sebastian Bondzio
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Die Osnabrücker Ausländermeldekartei 1930-1980. Potenziale als Quelle der Stadt- und Migrationsgeschichte, in: Osnabrücker Mitteilungen 126 (2021), S. 137-193
Sebastian Bondzio, Linda Ennen-Lange, Lukas Hennies, Sebastian Huhn, Max Pochadt, Christoph Rass & Janine Wasmuth
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Doing „Volksgemeinschaft“. Geschichte und Gesellschaft, 47(3), 343-379.
Bondzio, Sebastian F.
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Historical Big Data' in der Geschichtswissenschaft. Deutungskämpfe um die Osnabrücker Gestapo-Kartei, Vortrag im Rahmen des 53. Deutschen Historikertags, 4.-8. Oktober 2021.
Sebastian Bondzio
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Allmächtig, allwissend und allgegenwärtig. 12 Jahre Überwachung und Terror durch die Gestapo in der Grafschaft Bentheim, Vortrag im Rahmen des Gedenkaktes zum 77. Jahrestag des Kriegsendes der Stadt Nordhorn, 8. Mai 2022
Sebastian Bondzio
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Allmächtig, allwissend und allgegenwärtig? Ergebnisse des Forschungsprojekts zur Osnabrücker Gestapo-Kartei, Vortrag im Rahmen der Tagung Überwachung und Terror. Die Gestapo als Instrument des NS-Regimes der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten, 1.-3. Juli 2022
Sebastian Bondzio
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Card File Information Systems. Large or small tools of knowledge in interwar Germany?, Vortrag im Workshop Little Tools of Knowledge, Historical Department, University of Eugene, Oregon, 27. Mai 2022.
Christoph Rass
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Chapter 4 “At Least He Was Cautioned”: Digitally Researching the Gestapo’s Ruling Practices. Writing the Digital History of Nazi Germany, 57-98. De Gruyter.
Bondzio, Sebastian
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Data Driven History. Analoge Wissensspeicher in der digitalen Geschichtswissenschaft, Vortrag im Rahmen der Lunch Break Session der Universitätsbibliothek Osnabrück, 17. Juni 2022.
Sebastian Bondzio
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Data Driven History. Historical Process Modelling and Exploratory Analysis, Vortrag im Rahmen der Digitalen Tagung Database of German military and paramilitary units in Greece 1941-1944/45 – Presentation of working methods and interim results, 13. Januar 2022.
Sebastian Bondzio
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GIS, History and Big Data. Modelling change in urban societies with personalrelated data from historical records, Vortrag im Kolloquium des Geography Department, University of Oregon, Eugene, 10. März 2022.
Christoph Rass
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Machtkampf. Raumbezogene Strategien von NSDAP und KPD in Osnabrück (1928-1933), in: Osnabrücker Mitteilungen 127 (2022), S. 213-241.
Sebastian Bondzio; Christoph Rass & Wiebke Wellnitz
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Two Tales of a German City: Big Data and Urban History from the Nazis to the 'Economic Miracle', Carroll Lecture, Spring 2022, Department of History, University of Oregon, Eugene, 12. April 2022.
Christoph Rass
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"Das gesunde Volksempfinden gröblichst verletzt". Die Verfolgung verbotenen Umgangs durch die Osnabrücker Gestapostelle, in: Insa Eschenbach/ Christine Glauning/ Silke Schneider (Hg.): Verbotener Umgang mit „Fremdvölkischen“. Kriminalisierung und Verfolgungspraxis im Nationalsozialismus, Berlin 2023, S. 217-235
Sebastian Bondzio & Michael Gander
