Precarious kinship. Negotiations about adoption and incest after 1945
Final Report Abstract
Im 20. Jahrhundert wurde Verwandtschaft als gesellschaftliche Kategorie auf neue Weise zum Gegenstand von Debatten und (individuellen) Aushandlungen, die durch Veränderungen des Vererbungswissens, neue Reproduktionstechnologien ebenso geprägt wurden wie gewandelte familiäre Beziehungsformen, Geschlechterordnungen und gesellschaftliche Diversifizierung. Die gesellschaftlichen Diskussionen, wissenschaftlichen Expertisen und politischen Auseinandersetzungen um die Familie als Kern der Gesellschaft zielten zugleich auf die Ordnung der Verwandtschaftsverhältnisse des Einzelnen wie auf die Bewahrung gesellschaftlicher Ordnungen. Dementsprechend führte deviantes und delinquentes Verhalten innerhalb der Familie und der Gesellschaft zu Gegenreaktionen, die vom Zeitgeist geprägt sind. Denn trotz der zunehmenden Pluralisierung von Familien-, Beziehungs- und Lebensmodellen blieb die heteronormative Ehe weiterhin meistens der Bezugsrahmen für die im Grundgesetz geschützte Familie. Was mit dem Inzestverbot geschützt werden soll, die zugehörige Gesellschaft, die Familie als soziale Einheit selbst oder die ihr angehörenden Individuen und welche sozialen Konstellationen damit überhaupt erfasst werden, wandelte sich sowohl im zeitlichen Verlauf der Studie in der Bundesrepublik als auch je nach thematischem Schwerpunkt, womit verschiedene Perspektiven auf Verwandtschaftsverhältnisse beleuchtet werden. Die wiederkehrenden Fragen um die Gewichtung sozialer und biologischer Verwandtschaft und familialer Zugehörigkeit wurden in den Diskussionen, die ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zur Strafbarkeit des Geschwisterinzests 2008 begleiteten, zusammengeführt und zeigen neben der permanenten Verhandlung von Familien- und Sexualitätsvorstellungen auch die Kontinuitäten der Inzestdebatten seit 1945 auf. Beinahe alle im Antrag formulierten Ziele konnten somit erreicht werden, wenngleich der ursprünglich aufgestellte Arbeitsplan des Teilprojektes durch den Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 nicht gänzlich zu halten war. Das Projekt hat gezeigt, in wie vielen gesellschaftlichen Bereichen Inzestdebatten als Projektionsfläche für größere gesellschaftliche Fragen zur Familie und verwandtschaftliche Zugehörigkeiten dienten. In den Debatten und rechtsvergleichenden Studien treten zudem transnationalen Bezüge zum rechtlichen und gesellschaftlichen Umgang mit Inzest in anderen europäischen Staaten hervor, die Potentiale zur weiteren Erforschung sowohl über Systemgrenzen hinweg als auch bezüglich unterschiedlicher Rechtsverständnisse und -traditionen aufzeigen. Eine systematische Untersuchung der für die Bundesrepublik aufgeworfenen Fragen für die DDR steht ebenfalls noch aus, das punktuell hinzugezogene Quellenmaterial verweist auf das weitere Forschungspotential in diese Richtung.
Publications
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Contested Kinship: Towards a Redefinition of Human Relations, 14.–16.03.2019, Göttingen, in: H-soz-Kult, 17.10.2019
Constantin Goschler, Pia Eiringhaus
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Zwang zur Erziehung, Münster 2022
Constantin Goschler, Oliver Gaida, Marie-Theres Marx, Anna Schiff und Jan Waitzmann
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„in sexueller Beziehung wohl schon aufgewacht". Einblicke in Fürsorgeerziehungsmaßnahmen nach inzestuösen Handlungen in Westfalen-Lippe (1950er–1960er), in: Zwang zur Erziehung (hrsg. Constantin Goschler, Oliver Gaida, Marie-Theres Marx, Anna Schiff und Jan Waitzmann), Münster 2022 S. 189–212
Constantin Goschler
