Unter den sogenannten „islamisch-heterodoxen“ Gruppen des Nahen und Mittleren Ostens stellen die Alawiten/Nusairier zweifelsohne eine der enigmatischsten Gemeinschaften dar, da ihre Glaubensvorstellungen und religiösen Praktiken seit Jahrhunderten dem Gebot der Geheimhaltung (taqiyya) gegenüber Außenstehenden unterliegen, das von der Mehrzahl der Alawiten bis heute beherzigt wird. Generationen von Reisenden und Islamwissenschaftlern haben zwischen dem 19. und 21. Jh. kontinuierlich den Versuch unternommen, das "geheime Wissen" dieser Gemeinschaft zu ergründen und die religiösen Lehren zu dechiffrieren, waren aber bei ihren diesbezüglichen Anstrengungen stets auf einen mehr oder weniger begrenzten Korpus von historischen Texten (d.h. alawitischen religiösen Manuskripten) angewiesen. Auch wenn die immer gleichen Texte im Laufe der Forschungsgeschichte einer fortwährenden Exegese unterzogen wurden, so fehlte es doch stets an grundlegenden empirischen Daten, um überhaupt einschätzen zu können, ob und inwieweit die in den Manuskripten aufscheinenden religiösen Vorstellungen und Lehren mit der gelebten Praxis des Alawitentums korrespondieren. Mit diesem DFG-Projekt konnten erstmals in der Forschungsgeschichte empirisch fundierte ethnologische Daten zu den Alawiten gesammelt werden. Die von Prager über einen Zeitraum von 18 Monaten erhobenen Daten beziehen sich vorrangig auf die in der Türkei lebenden Alawiten der Çukurova- und Hatay-Region, die neben Syrien heute die zentrealen Siedlungsgebiete der Alawiten bilden. Für die Türkei wird ihre Anzahl auf ca. 1. Million geschätzt. Auf der Grundlage von langjährigen Kontakten und der daraus resultierenden Einbindung in soziale Netzwerke wurde Prager Zugang zu den zentralen religiösen Ritualen gewährt, die auf diese Weise erstmals in ihrer Komplexität dokumentiert werden konnten, darunter die Lebenszyklusrituale (Geburt, Initiation, Heirat, Bestattung) sowie Heilungs-, Reinigungs- und Opferrituale. Im Vordergrund der Untersuchung stand auch das für Außenstehende zunächst rätselhaft anmutende Phänomen der Wiedergeburt, für das die Alawiten bekannt sind und worüber in den öffentlichen Medien der Türkei bis heute berichtet wird. Prager konnte so im Zusammenhang der Forschung nicht nur eine Vielzahl von Fallbeispielen hinsichtlich der Wiedergeburt dokumentieren, sondern zugleich auch verdeutlichen, welcher Stellenwert dem betreffenden Phänomen und den damit verbundenen religiösen Diskursen im Gesamtzusammenhang der alawitischen Kosmologie zukommt. Darüber hinaus wurden Daten auch zu anderen religiösen Kategorien erhoben, die nicht zuletzt auch den synkretistischen bzw. gnostisch-sufistischen Charakter der religiösen Lehre der Alawiten widerspiegeln, wie das batin und zahir, die Differenzierung zwischen "Eingeweihten" und "Nichteingeweihten", die Trinitätslehre (ma‘na, ism und bab), die kosmologischen Rangordnungen, aber auch die Unterteilung der religiösen Gemeinschaft in die beiden miteinander kontrastierenden Strömungen der Haidri und Klezi. Schließlich wurde auch die Funktion der ziyara - der religiösen Pilgerorte und deren Bedeutung im Zusammenhang der inter-religiösen und inter-ethnischen Interaktion - einer genauen Betrachtung unterzogen. Auch war eine differenzierte Betrachtung der Gender-Ordnung und der damit verbundenen religiösen Pflichten bzw. Tabus geboten, zumal der alawitischen Religion im Lauf der Forschungsgeschichte nicht selten ein "gynophober" Zug nachgesagt wurde. All diese Aspekte wurden nicht nur hinsichtlich ihrer Relevanz für die gelebte Praxis, sondern auch mit Bezug auf ihre Variation vor dem Hintergrund unterschiedlich verorteter religiöser Perspektiven untersucht. So zeigten sich vielfach Divergenzen zwischen den Perspektiven der religiösen Laien und der Scheiche, die in ihren Nuancen herausgearbeitet wurden. Ein wesentliches Anliegen der Forschung bestand nicht zuletzt auch darin, das oftmals statisch erscheinende Bild der alawitischen Glaubensvorstellungen und religiösen Praktiken - wie es im Laufe der Forschungsgeschichte auf der Grundlage der alleinigen Exegese von religiösen Texten gezeichnet wurde - aufzubrechen und vielmehr die Dynamik und den Wandel der alawitischen Religion in der globalisierten Welt in den Blick zu nehmen. Sowohl durch die modernen nationalstaatlichen Entwicklungen in der Türkei als auch durch die alawitischen Migranten selbst sind eine Vielzahl von komplexen transnationalen Verflechtungen und Rückkopplungsprozessen entstanden, die gleichermaßen auf den Migrationskontext wie auch auf die alawitischen Ursprungsregionen zurückwirken. So wurden im Projekt neben dem Wandel der religiösen Vorstellungen und Rituale auch die sich verändernden alawitischen Konzepte über das Ordnungsgefüge sozialer Beziehungen untersucht. Die Dissertation/Monographie L. Prager: „Die ‚Gemeinschaft des Hauses‘: Religion, Heiratsstrategien und transnationale Identität türkischer Alawi/Nusairi-Migranten in Deutschland“ wurde von der Frobenius-Gesellschaft mit dem Forschungsförderungspreis für herausragende ethnologische Dissertationen ausgezeichnet und Frau Prager wurde in diesem Zusammenhang in verschiedenen Printmedien erwähnt. 14. November 2012: Interview über Sprachwandel und Verwandtschaft am Beispiel der Alawiten, in Juliette Ritz „Sprachverlust geht einher mit Kulturverlust“, wissen leben Die Zeitung der WWU Münster