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Die Rückkehr des Organismus in den Biowissenschaften: Theoretische, historische und soziale Dimensionen
Antragsteller
Professor Dr. Jan Baedke
Fachliche Zuordnung
Theoretische Philosophie
Förderung
Förderung seit 2019
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 419855389
Individualität ist ein Schlüsselbegriff in menschlichen Gesellschaften. Wie wir Individuen und ihre Grenzen definieren, beeinflusst unsere sozialen Beziehungen, welche Rechte und Aufgaben uns zukommen und wann wir als gesund oder krank gelten. In all diesen Fragen kommt der biologischen Dimension der Individualität – dem Organismus – eine entscheidende Rolle zu. Nach vielen Jahrzehnten, in denen das Paradigma des Gens die Biowissenschaften und Biomedizin dominierte, kehrt der Organismusbegriff aktuell zurück. So wird der Organismus erneut als kausal wirksame, autonome und aktive Einheit betrachtet, die die Eigenschaften der Gene übersteigt – besonders in Feldern wie der Epigenetik, der Theorie der Nischenkonstruktion und der Evolutionären Entwicklungsbiologie (Evo-Devo). Dieses Projekt erforscht diese Entwicklungen aus einer integrativ wissenschaftsgeschichtlichen und -philosophischen Perspektive. Es untersucht (i) biotheoretische und konzeptuelle, (ii) historische sowie (iii) soziale und anthropologische Dimensionen der aktuellen 'Rückkehr des Organismus'. Es zielt besonders darauf ab, Lösungen für theoretische und gesellschaftliche Herausforderungen organismuszentrierter Biowissenschaften im 21. Jh. bereitzustellen. Dies betrifft (i) das Problem, dass obwohl Organismen zunehmend als Akteure begriffen werden, die ihre Entwicklung und Umwelt aktiv konstruieren, größere genomische Datensätze jedoch auch zeigen, dass Organismen unauflösbar miteinander verbunden und vollständig in ihre Umwelt eingebettet sind. Dieser unklare neue Charakter des Individuums – hervorzutreten und zugleich zu verschwinden – führt zu verschiedenen methodologischen und explanativen Herausforderungen in den Biowissenschaften. Diese komplexe aktuelle Situation kann besser verstanden werden, wenn sie (ii) mit Phasen in der Geschichte der Biologie, besonders im frühen 20. Jh., verglichen wird, in denen der Organismus als eine zentrale Einheit in der Biologie begriffen wurde. Um die relevanten konzeptuellen Debatten zu identifizieren, samt der Lösungsansätze, die sie für heutige Herausforderungen bereithalten, werden Archivstudien mit Text Mining-Methoden kombiniert. Schließlich untersucht dieses Projekt, (iii) wie aktuelle individualistische und antiindividualistische Entwicklungen in der Biologie Trends in der personalisierten Medizin und in Gesundheitsdebatten prägen. Dies betrifft, erstens neue Verantwortungen von Individuen als selbstbestimmte Gesundheitsakteure, aber auch neue Sorgen um soziale Fremdbestimmung. Zweitens regt der unklare Status des Organismus Debatten dazu an, welche die geeigneten Zielobjekte – Individuen oder Kollektive (z.B. soziale oder ethnische Gruppen) – gesundheitspolitischer Interventionen sind, um Krankheiten wie Krebs oder Adipositas zu bekämpfen. Dies schließt auch den biomedizinischen Trend mit ein, sich erneut rassebasierten Klassifikationsmustern zu bedienen, um Krankheitsanfälligkeiten von in Umwelten eingebetteten Individuen zu erforschen.
DFG-Verfahren
Emmy Noether-Nachwuchsgruppen