Anthropologie der Relevanz: Schütz und Nishida im interkulturellen Dialog
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Im Projekt wurden Grundlagen einer philosophischen Anthropologie der „Relevanz“ entwickelt. Demnach beruht unser Erfahren und Handeln konstitutiv auf einer zweiseitigen Dynamik. Menschliches Leben verläuft einerseits gleichförmig, indem es geschlossenen Sinnmustern folgt, etwa typischen Erwartungen, persönlichen Gewohnheiten, gesellschaftlich oder technisch normierten Verfahren. Andererseits ist menschliches Leben offen für konkrete Situationen und Individuen, für ungewohnte Aspekte der Welt oder für neuartige Probleme und Lösungen. Erst beide Seiten zusammen bestimmen, was für Menschen hier und jetzt „relevant“ wird. Noch immer dominieren hingegen disziplinübergreifend Modelle die Debatte, die jene erste Seite menschlichen Lebens, seine Gleichförmigkeit, als primär ansetzen. Solche Ansätze können nicht plausibel erklären, warum wir Zugang zur Fülle der Welt jenseits geschlossener Sinnmuster haben. Demgegenüber arbeitete das Projekt den eigenständigen Charakter der zweiten Seite, der Offenheit, heraus. Diese Offenheit ist „aktiv“ in dem Sinn, dass sie nicht auf äußere Anstöße oder Zwänge warten muss, sondern als eine kreative Eigendynamik im Erfahren und Handeln selbst wirkt, die etablierte Sinnmuster aufbricht. Alltägliche Phänomene wie Neugierde, Spontaneität, Humor, Unruhe, Angst oder Langeweile sind nur besonders auffällige Ausdrücke einer solchen Offenheit, die unser Verhältnis zur Welt und zu uns selbst immer schon mitformt. Das Projekt ging von der Vermutung aus, dass eine hartnäckige Vernachlässigung menschlicher Offenheit in „westlichen“ Traditionen auch kulturelle Gründe hat. Theoretisch geleitet durch einen „interkulturellen Dialog“ zwischen den Philosophen Alfred Schütz und Kitarō Nishida wurde die um 1930 virulente Forschung zum Thema „Relevanz“ erschlossen und in aktuelle Diskussionen eingebracht. Trotz empfindlicher Beeinträchtigungen durch die zugleich mit dem Projektbeginn einsetzende Corona-Pandemie konnten die Vermutungen bestätigt sowie Mehrerträge gewonnen werden, die Wege für weitere Forschung vorzeichnen. So wurde der interkulturelle Dialog erweitert um Helmuth Plessner. Dieser macht um 1930 innerhalb der von Kant ausgehenden europäischen Tradition den bislang weitestgehenden Versuch, menschliche Offenheit zu denken, und baut so eine Brücke zu Nishida, der mithilfe buddhistischer Ressourcen Offenheit in ihrer äußersten Konsequenz formuliert. Für das menschliche Erfahren und Handeln wurde zudem eine Schlüsselrolle des Handelns aufgewiesen. Die somit praktisch orientierte Relevanztheorie wurde in bislang drei Richtungen erforscht: Die Untersuchung der Sinnerzeugung als situationsoffener Praxis ermöglicht eine phänomenologisch abgesicherte Lösung für das grundlegende Problem der Relevanz in der neueren Semiotik. Aus dem Zusammenhang von Wissen und Entscheiden in einer Gesellschaft sind ethische und politische Konsequenzen zu ziehen. Die Reflexion auch noch des eigenen Philosophierens als Handeln schließlich macht eine fortgeschrittene Epistemologie möglich. Aus dem Projekt gingen bislang fünf Aufsätze hervor, weitere Veröffentlichungen sind in Arbeit.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Kant and the Scandal of Intersubjectivity: Alfred Schutz’s Anthropology of Transcendence. Palgrave Handbooks in German Idealism, 131-152. Springer International Publishing.
Strassheim, Jan
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Neoliberalism and Post-Truth: Expertise and the Market Model. Theory, Culture & Society, 40(6), 107-124.
Strassheim, Jan
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Relevance as the Moving Ground of Semiosis. Philosophies, 7(5), 115.
Strassheim, Jan
