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Das postnationale Kino in Argentinien, Mexiko und Brasilien (1990-2018). Zwischen Fragmentierung und Refiguration
Antragsteller
Professor Dr. Christian Wehr
Fachliche Zuordnung
Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Förderung
Förderung seit 2020
Projektkennung
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 433326793
In Mexiko, Argentinien und Brasilien, den drei großen kinematographischen Nationen Lateinamerikas, war der Film seit den 1930er Jahren ein wichtiges Medium der Konstruktion kollektiver Identitäten. Zumeist staatlich gefördert, schwor der Film sein Publikum auf die Identitätsdiskurse und Geschichtskonzepte der Nation(en) ein. In Mexiko waren dies die Ideale der Revolution sowie die Aufhebung ethnischer Vielfalt in einer Kultur des Mestizischen, in Argentinien der Peronismus mit seiner besonderen Synthese von syndikalem Sozialismus und populistischem Personenkult, in Brasilien ein Programm der Homogenisierung ethnischer Heterogenität, das sich vor allem auf die Populärkulturen gründete. Die soziale, ethnische und kulturelle Pluralität wurde in den betreffenden Länder von zentralistischen, teils auch diktatorischen Regierungen über mehr als ein halbes Jahrhundert autoritär bis gewaltsam nivelliert. Ab den späten 1980er Jahren beginnen diese politisch verfügten Identitätskonzepte zunehmend zu erodieren. Von außen geschieht dies durch eine neoliberale Wirtschaftspolitik, welche die nationalen Räume sukzessive in globale Dynamiken einbindet und öffnet, von innen durch Prozesse einer ethnischen, sozialen und kulturellen Fragmentierung. Beide Ebenen bedingen und verstärken sich gegenseitig, denn auch unter dem Druck der Globalisierung verlangt die vormals unterdrückte Pluralität mit einer immer vehementeren Artikulation partikularer Identitäten wieder ihr Recht. Sie gründet sich dabei vor allem auf ethnische, soziale und kulturelle, aber auch auf politische und religiöse Traditionen. Die nachhaltigen Erschütterungen der nationalen Einheitsdiskurse werden dabei von jenem Medium maßgeblich begleitet und reflektiert, welches an der einstigen Konstruktion kollektiver Identitäten entscheidend beteiligt war: dem Kino. Der Film thematisiert jedoch nicht nur die Auflösung und Subversion überkommener Modelle des Nationbuilding. Er avanciert im selben Zuge auch zum facettenreichen Feld der Konstruktion und Artikulation neuer, unabhängiger und partikularer Identitäten, die sich zwischen ruraler Peripherie und urbaner Subkultur ansiedeln. Diese Emergenz dezentraler Gemeinschaften findet unter- und außerhalb der staatlichen Einheitsprogramme statt. Sie definiert ihre eigenen Normen sowie alternative ethische und soziale Konzepte, zum Teil sogar eine eigene Gerichtsbarkeit, wie sich eindrucksvoll in den zahlreichen filmischen Apologien der Selbstjustiz dokumentiert. Im Zentrum des Projektes stehen die kinematographischen Inszenierungen dieses Prozesses, in dem die Aushöhlung nationalstaatlicher Diskurse von der Herausbildung peripherer und partikularer Identitäten begleitet wird. Die vielfältigen filmischen Deutungen dieser doppelten, subversiven und zugleich konstruktiven Dynamik sollen für die genannten drei Länder in soziologischer, kultursemiotischer und filmwissenschaftlicher Perspektive analysiert werden.
DFG-Verfahren
Sachbeihilfen