Detailseite
Projekt Druckansicht

Neuperspektivierungen nachkolonialer Theorie: Über Geschichte und Erkenntnis in der brasilianischen Literaturwissenschaft

Antragstellerin Dr. Laura Gagliardi
Fachliche Zuordnung Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft; Kulturwissenschaft
Förderung Förderung seit 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 459579268
 
In diesem kulturhistorisch angelegten komparatistischen Forschungsprojekt soll der Prozess der literaturwissenschaftlichen Theoriebildung im brasilianischen nachkolonialen Kontext im 20. und 21. Jahrhundert aus einem fachübergreifenden Standpunkt untersucht werden. Ziel ist eine Neuperspektivierung des bislang von Zugriffen der Post-colonial Studies dominierten Kontextes zu versuchen, insbesondere anhand einer erstmaligen Erschließung der Werke von Antonio Candido (1918-2017) und Roberto Schwarz (Wien, 1938). Dekolonisierung war kein einheitlicher weltweiter Prozess, sondern durch vielschichtige historischen Zusammenhänge markiert, die nur ein konsequent historisierender Zugriff angemessen herauszuarbeiten vermag. Candido und Schwarz haben eine kritische Methode entwickelt, welche die Produktions-, Zirkulations- und Rezeptionsbedingungen der brasilianischen Literatur in einer Weise zu erklären erlauben, die im deutschsprachigen Kontext noch nicht ausreichend verbreitet ist. Ausgehend von der deutschsprachigen philologischen Tradition (Auerbach) und von der Kritischen Theorie (Benjamin, Szondi, Adorno), haben die beiden Protagonisten dies im brasilianischen Zusammenhang produktiv gemacht. In diesem Sinne distanzieren sie sich von dem seit den 1960er Jahren dominierenden Paradigma, Literatur entweder durch die Linsen der French Theory oder der anglophonen Post-colonial Studies zu betrachten. Ziel von Theorie und Praxis von Candido und Schwarz ist die Herausbildung einer literaturwissenschaftlichen Vorgehensweise, die sich gegen die Auffassung positioniert, Literatur sei ästhetischer Ausdruck von „Brasilianität“, einer Identität, die vermeintlich immer da war, aber von den Kolonisatoren unterdrückt wurde. Stattdessen halten Candido und Schwarz Literatur für eine Erkenntnisform, welche die Wirklichkeit in ihren umfassenden Aspekten zu erkennen erlaubt. Um dieser Zusammenhang zwischen Literatur, Geschichte und Gesellschaft zu beleuchten, soll die Untersuchung der literarischen Form als vermittelte Instanz begriffen werden. Dieses Vorhaben untersucht die Auseinandersetzung der „Brasilianität“ beispielhaft anhand der Kategorie der Anthropophagie. Die Metapher der Anthropophagie wurde nach Oswald de Andrades Manifesto Antropófago (1928) als zentrales Paradigma vermeintlicher „Brasilianität“ verbreitet. Sie gewann ab den 1960er und 1970er Jahren unter dem Einfluss von der French Theory weitere Bedeutungen und erregte internationale Aufmerksamkeit. Dann wurde die Anthropophagie von den Post-colonial Studies angeeignet und mit Kategorien wie etwa „Hybridität“ gleichgesetzt. Die scharfe Kritik am Begriff der Anthropophagie und die daraus entstandenen Debatten in Brasilien sind jedoch außerhalb des Landes kaum zur Kenntnis genommen worden. Das hier beantragte Vorhaben wird diese Debatte seit ihrem Anfang ausführlich rekonstruieren, um etwa die Rolle von Mário de Andrade und seiner antinationalistische Kritik deutlich zu machen.
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
 
 

Zusatzinformationen

Textvergrößerung und Kontrastanpassung