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Diarische Selbstbeobachtung als medico-theologische Erkenntnispraxis: Form, Funktionen, Grundlagen und Kontexte von Johann Christian Senckenbergs "Observationes"

Antragstellerin Dr. Vera Faßhauer
Fachliche Zuordnung Germanistische Literatur- und Kulturwissenschaften (Neuere deutsche Literatur)
Förderung Förderung seit 2021
Projektkennung Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - Projektnummer 468948973
 
Der Frankfurter Arzt und Stifter Johann Christian Senckenberg (1707–1772) wird in der bisherigen Forschung als religiöser Schwärmer, ängstlicher Hypochonder und systemloser Detailsammler porträtiert. Ursächlich für diese Beurteilung ist vor allem die Tatsache, dass Senckenbergs umfangreiche und schwer zu entziffernde Tagebücher entweder nicht oder nur unter einseitig positivistischen Maßgaben einbezogen wurden. Gestützt auf nun vorliegende Volltexttranskriptionen sowie auf neue Forschungsergebnisse zu epistemischen Aufzeichnungspraktiken und zum Verhältnis von Religion und Aufklärung geht die Arbeit der Frage nach, ob der vermeintlich fanatische und detailverlorene Diarist nicht in Wahrheit als ein exemplarischer Repräsentant seines Jahrhunderts gelten kann, der im Hinblick auf Religion und Medizin sogar ausgesprochen fortschrittliche Ansichten vertrat. Hierfür soll zunächst die Selbstverortung des Autors zwischen reichstädtischem Bürgertum, radikalpietistischem Konventikel und gelehrter Ärzteschaft untersucht und mithin das soziale, religiöse und berufliche Entstehungsumfeld der Tagebücher abgesteckt werden. Weiter wird im Vergleich mit anderen Tagebuchprojekten der Epoche die Spezifik der Aufzeichnungen bestimmt. Da sie sowohl Charakteristika des religiösen Tagebuchs als auch der epistemischen Gattung observatio aufweisen, werden alsdann ihre Funktionen und Erkenntnispotenziale im Doppelkontext der radikalpietistischen Glaubens- und der empiristischen Wissenschaftspraxis analysiert. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den Quellen, die Senckenberg wegweisende Impulse für seine mehrfunktionale Aufzeichnungspraxis vermittelt haben könnten. Schließlich soll Senckenbergs radikalpietistische Medico-Theologie zu den medizinischen, theologischen und erkenntnistheoretischen Debatten der Aufklärungszeit in Beziehung gesetzt werden.Seinem in sich selbst vielschichtigen Untersuchungsgegenstand gemäß leistet das Projekt Beiträge zu mehreren Forschungsdisziplinen. So kann die Pietismusforschung neue Erkenntnisse zu den bisher kaum untersuchten Frankfurter Separierten und mithin eine schärfere Erfassung des Radikalpietismus erwarten. Senckenbergs Positionen zu den epochenspezifischen Diskursen um Krankheit und Eigenverantwortung, Heterodoxie und Toleranz sowie Rationalismus und Empirismus eröffnen zugleich einen neuen Blickwinkel auf das Verhältnis zwischen Religion und Aufklärung. Dieses Spannungsfeld lässt sich auch auf medizinhistorischem Gebiet aufzeigen, indem der Einfluss radikalpietistischer Körper- und Seelenkonzepte auf die Entwicklung der Psychomedizin im 18. Jahrhundert herausgearbeitet wird. Das zentrale Erkenntnisinteresse der Arbeit ist allerdings ein literaturwissenschaftliches: Indem sie Senckenbergs Aufzeichnungen gleichermaßen als Medium der Selbst-, Natur- und Gotteserkenntnis begreift, eröffnet sie in thematischer wie auch in gattungsorientierter Hinsicht neue interdisziplinäre Perspektiven für die Diaristikforschung.
DFG-Verfahren Sachbeihilfen
 
 

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