Exzentrik der Mitte. Zur Semantik fremder Räume in deutscher erzählender Literatur und periodischer Presse der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Final Report Abstract
Mit meiner Habilitationsschrift und den sie begleitenden Aufsätzen lege ich einen eigenständigen Beitrag sowohl zur Bedeutung der Zeitschriften für die Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie auch für die Erforschung der Inkubationsphase jenes normalistischen Denkens vor, das dann spätestens seit der Jahrhundertwende (und bis heute) zur bestimmenden Signatur moderner Gesellschaften wurde. Mit der Fokussierung auf populäre Zeitschriften habe ich ein nicht nur repräsentatives, sondern zugleich das einflussreichste Massenmedium des 19. Jahrhunderts, dessen Bedeutung für die soziale Kommunikation der Zeit zwar kaum mehr in Frage gestellt wird, das aber bis heute nach wie vor selten zum Gegenstand sei es geschichts-, kommunikations- oder literaturwissenschaftlicher Forschung gemacht wird. Umstritten ist in der Literaturwissenschaft insbesondere der Einfluss, den die Zeitschriften auf die literarische Kommunikation der Zeit ausgeübt haben. Der nach wie vor dominierenden These einer antagonistischen Beziehung von ›großer‹ Literatur und Massenmedium, wie sie zuletzt von Rudolf Helmstetter vorgetragen wurde, versuche ich entgegenzutreten. Im Anschluss an die Studie Manuela Günters von 2008 betrachte ich die populären Zeitschriften nicht als Widerpart, sondern als genuinen Teil des realistischen Literatursystems des 19. Jahrhunderts, das wesentlich zu dessen Konstitution und Reproduktion beigetragen hat. Nach der gescheiterten bürgerlichen Revolution bildet sich in Deutschland jener im vorausgehenden Abschnitt des Berichts ausführlich behandelten Diskurs der Mitte als Vermittlung zwischen Idealismus und Realismus in Politik und Kultur heraus, der das Thema der Arbeit bildet. Dass dieser diskursive Prozess der ›Vermittelmäßigung‹ sich sowohl auf ideologischer als auch auf kommunikativer Ebene vollzieht, stellt eine der Hauptthesen meiner Habilitationsschrift dar. Die Interaktion der auf ein mittelständisches Publikum ausgelegten Zeitschriften, der auf eine »künstlerische Mitte« (Otto Ludwig) ausgerichteten Programmatik des literarischen Realismus und des auf die Formierung eines ›mittleren‹ deutschen Nationalcharakters zielenden politisch-kulturellen Diskurses steht mithin im Zentrum der Studie, die auf diese Weise Literatur- als Diskurs- und Mediengeschichte betreibt. Damit wird über die bekannte Situierung literarischer Texte im Kommunikationsraum der Massenmedien hinaus erstmals eine konsequente Analyse des Diskursfelds der populären Zeitschriften durchgeführt, und die dort publizierten literarischen Texte werden als integraler Bestandteil dieses Diskurses erwiesen. Eine solche Analyse wird möglich, weil ich nachzuweisen versuche, dass sich der Diskurs der Mitte nicht erst in den literarischen Texten, sondern bereits in den Zeitschriften selbst auf durchaus unterschiedliche Weise realisiert. Unter Bezugnahme auf Jürgen Links Arbeiten zum Normalismus wird ein Spielraum des Mediums aufgezeigt, der sich zwischen der normativen Festschreibung einer ›protonormalistischen‹ Mitte einerseits und der normalistischen Bestimmung der Mitte als eines relativ offenen Feldes andererseits bewegt. Damit können nicht nur Bewegungen des Ein- und Ausschlusses beschrieben werden, die auf die Stabilisierung einer möglichst eindeutigen Mitte als Grenze ausgerichtet sind, sondern auch exzentrische Bewegungen, die die Position einer flexiblen Mitte erst nach dem Durchgang durch verschiedene Extremzonen erreichen und damit zugleich deren zumindest potenzielle Integration verhandeln. Dass eine solche Beschreibung mit Hilfe der kultursemiotischen Theorie der Raumsemantik Jurij Lotmans erfasst werden kann, ist bislang noch nicht geschehen, erscheint aber m.E. naheliegend, zumal dann wenn über Lotman hinaus die Aufmerksamkeit auf die Zwischen- und Schwellenräume gelenkt wird, in denen sich die Aushandlung einer ›normalen Mitte‹ vollzieht.
Publications
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Amerika und die deutschsprachige Literatur nach 1848. Migration – kultureller Aus-tausch – frühe Globalisierung, Bielefeld: Transcript 2009
Christof Hamann / Ute Gerhard / Walter Grünzweig (Hg.)
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In die Fremde reisen. Ge-genwartsliteratur auf den Spuren historischer und fantastischer Entdek-kungsreisen, hg. v. C.H. u. Alexander Honold, Göttingen: Wallstein 2009
Christof Hamann / Alexander Honold (Hg.)
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Die Grenze als interkulturelle Kategorie: ›Robinson Crusoe‹, mit Jurij M. Lotman gelesen, in: Zwischen Provokation und Usurpation. Interkulturalität als (un)vollendetes Projekt der Sprach- und Lite-raturwissenschaften, hg. v. Dieter Heimböckel, Irmgard Honnef-Becker, Georg Mein u. Heinz Sieburg, München: Fink: 2010, S. 223-238
Christof Hamann
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Der perfekte realidealistische Held. Karl May als Autor des ›Deutschen Hausschatzes in Wort und Bild‹, in: Medialer Realismus, hg. v. Daniela Gretz, Freiburg: Rombach 2011, S. 145-165
Christof Hamann
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Ost-West-Städte. Zur Inszenierung von St. Louis und San Francisco in Familienzeitschriften vor der Reichsgründung, in: Ost-Westliche Kulturtransfers: Orient, Amerika, hg. v. Alexander Honold, Bielefeld 2011, S. 205-227
Christof Hamann
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Schwarze Gesichter im deutschen Mondschein. Zum Konzept des Barbarischen in Wilhelm Raabes ›Abu Telfan‹, in: Deutsch-afrikanische Diskurse in Geschichte und Gegenwart. Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven, hg. v. Michael Hofmann u. Rita Morrien, Amsterdam-New York 2011, S. 53-70
Christof Hamann
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Zwischen Normativität und Normalität. Zur diskursiven Position der ›Mitte‹ in populären Zeitschriften nach 1848, Heidelberg: Synchron, Wissenschaftsverlag der Autoren/Synchron Publishers, 2014; zgl. Habilitationsschrift
Christof Hamann