Genetik der Adipositas: Analyse genetischer Deletionen und Duplikationen zur Entdeckung neuer Adipositasgene
Zusammenfassung der Projektergebnisse
Die zunehmende Prävalenz von Adipositas (Fettleibigkeit) stellt nicht nur wegen der mit ihr einhergehenden Folgeerkrankungen, sondern auch aufgrund der sozioökonomischen Kosten eine der größten medizinischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts dar. Zwillings- und Adoptionsstudien belegen, dass 40-70% der Varianz des Körpergewichts genetisch bedingt sind. Die Identifikation von Genen, deren Defekte zu Adipositas und/oder assoziierten Folgeerkrankungen wie Typ 2 Diabetes führen, ermöglicht Betroffenen nicht nur eine Diagnosestellung, sondern langfristig auch die zielgerichtete, individualisierte Therapie. In dem hiesigen Projekt wurde untersucht, welche Rolle Deletionen (Verlust von einem Chromosomenabschnitt) bei der Entstehung von Adipositas und assoziierten Folgeerkrankungen spielen. Dabei beruht dieses Forschungsprojekt auf Vorarbeiten von Professor Farooqi, in denen sie und ihr Team zeigen konnten, dass Patienten mit einer spezifischen Deletion auf Chromosom 16 (im Detail: Chromosom 16p11.2, Bruchstelle (BP) 2 bis 3) frühkindliche Adipositas und Insulinresistenz, welche eine Vorstufe zum Typ 2 Diabetes darstellt, entwickeln (4). Wir konnten diese Deletion in Professor Farooqis Kohorte von ~700 Patienten mit frühkindlicher Adipositas als eine der häufigsten Deletionen in dieser Patientengruppe wiederfinden und zudem eine erstaunlich hohe Anzahl an Deletionsträgern in weiteren klinischen (Kinder)kohorten finden. Unklar war jedoch, welche klinischen Konsequenzen diese Deletion im Erwachsenenalter mit sich bringt. Die Deletion 16p11.2 BP2-3 umfasst das Gen SH2B1, welches ein Adaptormolekül für viele Signalwege (u.a. den Insulin-, Leptin- und BDNF-Signalweg) codiert. Da Verlust von SH2B1 in Mäusen ebenfalls zu Adipositas und Insulinresistenz führt, wurde der Verlust von SH2B1 im Rahmen dieser Deletion, welche insgesamt mindestens 9 Gene enthält, als Ursache für den von Adipositas und Insulinresistenz geprägten Phänotyp vorgeschlagen. Wir haben in den bevölkerungsbasierten Kohorten der UK Biobank und der Estländischen Biobank 79 Träger der SH2B1 umfassenden minimalen Deletion identifiziert. Deletionsträger im Vergleich zu Nicht-Deletionsträgern haben proportional eine höhere Rate an frühkindlicher Adipositas, häufiger und früher Typ 2 Diabetes mellitus, welcher schwerer zu therapieren ist, und mehr Folgeerkrankungen (wie z.B. Fettleber). Da Sh2B1 ebenfalls eine Rolle im EPO-Signalweg, welcher für die Blutbildung im Knochenmark wichtig ist, spielt, haben Deletionsträger zudem öfter Blutarmut (Anämie). Ebenfalls zeigten Deletionsträger vermehrt kognitive Einschränkungen und psychosoziale Auffälligkeiten, welche mit der Rolle von SH2B1 im BDNF-Singalweg im Gehirn vereinbar sind. Insgesamt haben unsere Ergebnisse eine direkte klinische Relevanz: Aktuelle Leitlinien sehen eine genetische Testung von Kindern mit Adipositas vor dem 5. Lebensjahr vor. Für diese Testung sollten Methoden, die die Erfassung einer Deletion erlauben, verwendet werden (z.B. MLPA oder CGH). Zudem sollten betroffene Patienten aufgrund der drastischen metabolischen Veränderungen zur weiteren Behandlung endokrinologisch angebunden werden, so dass eine Therapie mit passenden Medikamenten wie Insulinsensitizern frühzeitig begonnen werden kann.
Projektbezogene Publikationen (Auswahl)
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Chromosomal deletions on 16p11.2 encompassing SH2B1 are associated with accelerated metabolic disease. Cell Reports Medicine, 4(8), 101155.
Hanssen, Ruth; Auwerx, Chiara; Jõeloo, Maarja; Sadler, Marie C.; Henning, Elana; Keogh, Julia; Bounds, Rebecca; Smith, Miriam; Firth, Helen V.; Kutalik, Zoltán; Farooqi, I. Sadaf; Reymond, Alexandre & Lawler, Katherine
