Der Zusammenhang zwischen der Entfaltung wissenschaftlicher Kontroversen und der Wissensentwicklung in der früheren Krebsforschung
Final Report Abstract
Der Weg zur Erfüllung des Projektzieles ließ sich nach verschiedenen Abschnitten gliedern. Anfangs wurden einige der Entdeckungen geschildert, die ein neues Phänomen ins Blickfeld rückten, ein zellfreies Agens der Tumorbildung. Danach wurden die einander widerstreitenden Positionen vorgestellt, die man seinerzeit zum Verständnis dieses „Geschwulstvirus" eingenommen hatte. (1) Es konnte sichtbar gemacht werden, dass sich, weil die Krebsforscher von gegensätzlichen Konzepten ausgingen, die sie verschiedenen Fachgebieten entlehnt hatten, auch unterschiedliche Erfahrungsbereiche herausbildeten, die eine Verständigung zwischen den verschiedenen Parteien unter Verweis auf empirische Fortschritte nicht zuließen und es den Beteiligten erlaubten, immer wieder Argumente zur Verteidigung des eigenen wie auch zu Angriffen auf Standpunkte der Gegenseite in den Debatten wirksam werden zu lassen. Die Meinungsgegensätze ließen sich nicht durch weiteres kontinuierliches Forschen und geduldiges Abwägen der konträren Standpunkte aus der Welt schaffen. (2) Es ließ sich nachweisen, dass die Schließung der Kontroverse erst mit Beiträgen von Krebsforschern eingeleitet wurde, die auf eine Harmonisierung des Verhältnisses zwischen den gegensätzlichen Standpunkten hinlenkten, um Anforderungen der medizinischen Praxis zu genügen, denen man, wie etliche Forscher meinten, mit der Fortführung der kontroversen Debatten zu allgemeinen Fragestellungen allein nicht genügen konnte. Nicht um den Aufbau einer universellen Theorie der Krebsbildung ging es, Fortschritte erhoffte man sich vielmehr von der Arbeit an Einzelproblemen. Mit solchen Beiträgen wurde ein eher pragmatisches denn theoretisches Anliegen vertreten. Formuliert wurden die Vorschläge in der Art von Kompromissen, also in einer Art, woraus noch keine theoretische Fusion der einander widerstreitenden Positionen hervorgehen konnte. Nicht Fortschritte in der empirischen Forschung, nicht weitere Entdeckungen hatten Forscher dazu bewogen, vielmehr wollten sie, dass aus der Heilpraxis hervorgegangenen Anforderungen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, Anforderungen aus einem Gebiet, auf dem sich Forscher viel eher mit theoretischen Widersprüchen abfinden, wenn nur praktische Erfolge erzielt werden können. (3) Für die Schließung der Kontroversen waren m.E. besonders jene Beiträge bedeutsam, die gewisse Modifikationen der miteinander zu versöhnenden Standpunkte zu deren wechselseitiger Annäherung einschlössen. Die Versöhnungsvorschläge wurden ja der Fachöffentlichkeit in der Hoffnung unterbreitet, dass sich die Resultate, die sich nach den verschiedenen Konzepten gewinnen ließen, irgendwann werden ineinander transformieren lassen. So wurden neue empirische Aufgabenstellungen ins Auge gefasst, mit deren Realisierung sich die Richtungen, zwischen denen sich Gegensätze entfaltet hatten, die in den fraglichen Vorschlägen nur spekulativ überbrückt worden waren, auch sachlich zusammenführen ließen. Die Beendigung der Streitigkeiten lässt sich folglich nicht als Prozess verstehen, der zu einer der Ideen, mit denen die Akteure in eine Auseinandersetzung eingetreten waren, zurückgeführt hätte, so als wäre diese aus einer Menge konkurrierender Ideen im Lichte irgendwelcher konzeptneutraler Maßstäbe von der Gemeinschaft der Krebsforscher ausgewählt worden. (4) Diesen Prozess habe ich dann in einen Zusammenhang mit der Herausbildung eines neuen Paradigmas gestellt, dem Paradigma der Onkogene, nach dessen Maßgabe es wiederum zu einer Festigung des Zusammenhalts der Konzepte kam, die mit den verschiedenen Verfahrungsweisen in der Forschungsarbeit verknüpft waren und in dessen Licht die Kontroversen in der Krebsforschung an Gewicht einbüßten. So wurden die Kontroversen erst im Ergebnis eines Prozesses gegenstandslos, in dem sich jene Entscheidungsprämissen und Orientierungen wandeln konnten, nach deren Maßgabe ja die Divergenzen immer wieder aufs Neue aufflammen rnussten. Die Beendigung der Kontroversen gewann so eine Form, in der die neuen Konzepte gar nicht mehr zu erkennen geben, aus welchen Auseinandersetzungen sie hervorgegangen sind. Erst dann kann auch m.E. von einer „Schließung" wissenschaftlicher Kontroversen die Rede sein.
Publications
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Entscheidbarkeit wissenschaftlicher Kontroversen. Studie eines Streites in der früheren Geschwulstforschung. Berlin: Verlag Gesellschaft für Wissenschaftsforschung 2003
Karlheinz Lüdtke
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Zur Geschichte wissenschaftlicher Kontroversen in der früheren Geschwulstforschung und wie sie das Wissen zur Krebsverursachung gefördert haben. In: Wissenschaftsforschung. Jahrbuch 2006: Wissenschaft und Technik in theoretischer Reflexion. Hrsg. v. H. Parthey und G. Spur. Frankfurt a.M. et al: Peter Lang Verlag 2007, 79-104
Karlheinz Lüdtke
